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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)


No. 31.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Gesprengte Fesseln.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


Reinhold saß am Flügel und phantasirte. Das Gemach war nicht erhellt, nur das voll hereinströmende Mondlicht schwebte über dem Meere von Tönen, das hier aufbrauste, als ob der Sturm in seinen Wogen wühle, sie bald anschwellend zu Bergeshöhe, bald wieder eine Abgrundtiefe entschleiernd. Jetzt quollen die Melodien empor, leidenschaftlich, glühend, berauschend, und dann auf einmal zuckte es jäh dazwischen, wie schneidende Dissonanzen, wie grelle Mißlaute. Das waren die Töne, mit denen Rinaldo schon seit Jahren im Reiche der Musik herrschte, mit denen er die Menge zur Bewunderung fortriß, vielleicht weil sie jenem dämonischen Elemente eine Sprache liehen, das in der Brust eines Jeden schlummert, und dessen sich wohl schon Jeder einmal, halb mit Grauen und halb mit süßem Schauer, bewußt geworden ist. Es lag in diesen Melodien auch etwas von dem wilden Stürmen von Genuß zu Genuß, von dem jähen Wechsel zwischen fieberischer Aufregung und tödtlicher Ermattung, von dem Ringen nach Betäubung, die, ewig gesucht, nie gefunden wurde, und doch klang immer und immer wieder etwas Mächtiges, Ewiges hindurch, das nichts gemein hatte mit jenem Elemente, das mit ihm kämpfte, sich darüber erhob, um schließlich doch wieder darin unterzugehen. –

Aus den Gärten stiegen die Orangendüfte empor und flutheten herein durch die weit geöffneten Balconthüren und wehten berauschend hin durch das Gemach. Klar, voll unendlicher Schönheit und unendlichen Friedens lag der Mondesglanz über der ewigen Stadt, und im bläulichen Nebeldufte verschwand die dämmernde Ferne. Träumerisch rauschte die Fontaine dort unten inmitten der Blüthenbäume, und das Licht, das in den fallenden Tropfen glänzte, erhellte jetzt auch in vollster Klarheit die ganze Reihe der Gemächer mit ihren Kunst- und Marmorschätzen; es beleuchtete das Bild in dem reich vergoldeten Rahmen, so daß die dämonisch schöne Gestalt da oben zu leben schien, und fiel auf das Antlitz des Mannes, dessen Stirn inmitten all dieser Schönheit und all dieses Friedens so schwer umdüstert blieb.

Freilich, es lagen Jahre zwischen jenen langen nordischen Winternächten, in denen der junge Künstler seine ersten Compositionen schuf, und dieser duftigen Mondnacht des Südens, in welcher der hochgefeierte Rinaldo das Hauptthema seiner Oper in unendlichen Variationen wiederholte, und wohl noch vieles Andere, was schwerer wog, als die Jahre allein. Und doch versank das Alles in dieser Stunde. Leise kam die Erinnerung gezogen und ließ längstvergangene Tage wieder aufleben, längstvergessene Bilder wieder hervortreten, das kleine Gartenhaus mit seinen alterthümlichen Möbeln und der dürftigen Weinranke über dem Fenster, das armselige Stückchen Gartenland mit den wenigen Bäumen und Gesträuchen und den hohen gefängnißartigen Mauern ringsum, das enge, düstere Haus mit dem so tief gehaßten Geschäftszimmer. Matte farblose Bilder – und doch wollten sie nicht weichen, denn über ihnen schwebten lächelnd ein paar große tiefblaue Kinderaugen, die dem Vater nur dort geleuchtet hatten, und die er hier, in dieser Umgebung voll Poesie und Schönheit, vergebens suchte. Er hatte sie so oft gesehen in dem Antlitze seines Kindes, und dann auch einmal noch – anderswo. Die Erinnerung daran war freilich halb verweht, fast vergessen, hatten sie sich ihm doch nur auf einen Augenblick gezeigt, um sich dann wieder zu verschleiern, wie sie es jahrelang gethan, aber diese Augen waren es doch, die ihm allein vorschwebten, als sich jetzt aus dem Wogen und Wallen der Töne eine zauberisch süße Melodie emporrang. Es sprach ein unendliches Sehnen daraus, ein Weh, das die Lippen nicht aussprechen wollten, und es schlug die Brücke hinüber zu der fernen, fernen Vergangenheit. Jetzt hatte der Genius die Fesseln gesprengt, die ihn damals drückten und einengten; jetzt stand er oben auf der einst erträumten Höhe. Was Leben und Glück, was Ruhm und Liebe nur zu geben vermochten, das war ihm zu Theil geworden, und jetzt – wie ein Sturm brauste es wieder empor aus den Tasten, wild, leidenschaftlich, bacchantisch, und daraus hervor klagte immer wieder jene Melodie mit ihrem ergreifenden Weh, mit ihrem ruhelosen, nie gestillten Sehnen.




„Ich fürchte, unser Signor Capitano hält es nicht lange aus in Mirando. Es ist gefährlich, daß er hier fortwährend seine See vor Augen hat; er blickt mit einer solchen Sehnsucht darauf hin, als wolle er uns je eher je lieber davonsegeln.“

Mit diesen Worten wandte sich Marchese Tortoni an seinen Gast, der während der letzten Viertelstunde fast gar keinen Antheil am Gespräche genommen hatte und den der junge Wirth soeben auf einem verstohlenen Gähnen ertappte.

„Nicht doch!“ verteidigte sich Hugo. „Ich fühle mich nur so grenzenlos unbedeutend und unwissend bei all’ diesen idealen Kunstgesprächen, bin so tief durchdrungen von dem Gefühle dieser meiner Unwissenheit, daß ich mir soeben in aller Eile das ganze Commando während eines Sturmes wiederholte, um mir die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 491. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_491.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)