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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

meines Bruders, wie Sie zu vermuthen scheinen, noch bin ich überhaupt in seinem Interesse oder mit seinem Wissen hier. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, er hat augenblicklich noch keine Ahnung davon, daß seine Gattin und sein Sohn sich in seiner Nähe, daß sie sich überhaupt in Italien befinden. Mich dagegen“ – hier hielt es der Capitain doch für angemessen, etwas Dichtung in die Wahrheit zu mischen – „mich dagegen führte ein Zufall auf die Spur, von deren Richtigkeit ich mich vorerst zu überzeugen wünschte. Ich kam, um meine Schwägerin zu sehen.“

„Das würde wohl besser unterbleiben,“ meinte der Consul mit auffallender Kälte. „Sie werden begreifen, daß ein solches Zusammentreffen für Eleonore nur peinlich sein kann –“

„Ella weiß am besten, wie ich von jeher zu der ganzen Angelegenheit gestanden habe,“ unterbrach ihn der Capitain. „und sie wird mir sicher die erbetene Unterredung nicht versagen.“

„Nun wohl, so thue ich es im Namen meiner Pflegetochter,“ erklärte Erlau bestimmt.

Hugo stand auf. „Herr Consul, ich weiß, daß Sie Vaterrechte über meinen Neffen und auch wohl über seine Mutter erworben haben, und ehre diese Rechte. Deshalb bitte ich Sie um die Gewährung dieser Zusammenkunft. Ich werde meine Schwägerin mit keinem Worte, mit keiner Erinnerung verletzen, wie Sie es zu fürchten scheinen, nur – sehen möchte ich sie doch wenigstens.“

Es lag in den Worten eine so warme ernste Bitte, daß der Consul schwankte. Er mochte wohl an die Zeit denken, wo der Muth des jungen Capitain Almbach ihm das beste seiner Schiffe gerettet hatte, und der Dank, den der reiche Handelsherr in überschwenglicher Weise abzutragen bereit war, höflich, aber bestimmt zurückgewiesen wurde. Es wäre mehr als undankbar gewesen, diesem Manne gegenüber auf der schroffen Abweisung zu beharren; er gab nach.

„Ich werde fragen, ob Eleonore zu dieser Unterredung geneigt ist,“ sagte er aufstehend. „Von Ihrem Hiersein ist sie allerdings schon unterrichtet, denn sie war bei mir, als ich Ihre Karte empfing. Ich bitte nur um einige Augenblicke Geduld.“

Er verließ das Zimmer; es vergingen wohl an zehn Minuten ungeduldigen Harrens, da endlich wurde die Thür von Neuem geöffnet und ein Damenkleid rauschte auf der Schwelle. Hugo ging rasch der Eintretenden entgegen.

„Ella! Ich wußte, daß Sie mich nicht –“ Er stockte plötzlich, die zum Willkommen ausgestreckte Hand sank langsam nieder, und der Capitain stand wie angewurzelt.

„Sie scheinen mich kaum mehr zu erkennen,“ sagte die junge Frau, die vergeblich auf eine Vollendung des Grußes wartete. „Habe ich mich denn so sehr verändert?“

„Ja – sehr,“ bestätigte Hugo, dessen Auge noch immer in maßlosem Erstaunen an der Gestalt der vor ihm stehenden Dame hing. Der kecke, übermüthige Seemann, der sich sonst jeder Lage des Lebens, jeder Ueberraschung gewachsen zeigte, stand hier stumm, verwirrt, fast bestürzt da. Freilich, wer hätte das auch je für möglich gehalten!

Das also war aus der einstigen Gattin seines Bruders geworden, aus der scheuen furchtsamen Ella, mit dem blassen unschönen Gesichtchen und dem linkisch schüchternen Wesen! Jetzt erst sah man es, was jene Kleidung gesündigt hatte, in der Eleonore Almbach immer nur wie die Magd und nie wie die Tochter des Hauses erschien, und was jene unendliche Haube, die, wie für die Stirn einer Sechszigjährigen gemacht, Tag für Tag das Haupt der noch so jugendlichen Frau bedeckte. Das Alles war verschwunden bis auf die letzte Spur. Das helle duftige Morgengewand ließ die schlanke, noch immer mädchenhaft zarte Gestalt in ihrer ganzen Schönheit hervortreten, und der überreiche Schmuck der blonden Flechten, die jetzt unverhüllt getragen wurden, umgab in seiner ganzen schweren, goldschimmernden Pracht das Haupt. Das Gesicht der „blonden Signora“ hatte Marchese Tortoni freilich nicht gesehen, aber Hugo sah es jetzt, und während dieses secundenlangen Anschauens fragte er sich immer wieder, was denn eigentlich mit diesen Zügen vorgegangen sei, die einst so starr und leer waren, daß man ihnen den Vorwurf der Stumpfheit gemacht, und die nun so beseelt und durchgeistigt erschienen, als sei ein Bann von ihnen genommen und irgend etwas Niegeahntes darin zum Leben erwacht. Freilich lag es noch um den Mund wie ein Zug leisen, nicht überwundenen Schmerzes, und die Stirn überschattete eine Schwermuth, die sie früher nicht gekannt, aber die Augen suchten nicht mehr verschleiert und scheu den Boden; jetzt waren sie klar und voll aufgeschlagen, und sie hatten wahrlich nichts eingebüßt von der einstigen Schönheit. Ella schien es gelernt zu haben, das, was ihr die Natur gegeben, nicht mehr ängstlich vor fremden Blicken zu verstecken. Als sie achtzehn Jahre alt war, fragte ein Jeder achselzuckend: „Wie kommt diese Frau an die Seite dieses Mannes?“ Mit achtundzwanzig war sie eine Erscheinung, die mit jeder Anderen in die Schranken treten konnte. Wie schwer mußten der Druck und die Fesseln des Elternhauses auf der jungen Frau gelastet haben, wenn wenige Jahre, in freieren edleren Umgebungen verlebt, genügt hatten, um die einstige Hülle bis auf den letzten Rest abzustreifen und dem Schmetterlinge die Flügel zu lösen. Die fast unglaubliche Veränderung bewies, was die einstige Jugenderziehung verschuldet.

„Sie wünschten eine Unterredung mit mir, Herr Capitain?“ begann Ella, indem sie sich auf die Ottomane niederließ. „Darf ich bitten?“

Worte und Haltung waren so sicher und unbefangen, wie die einer vollendeten Weltdame, die einen Besuch empfängt, aber auch fremd und kühl, als habe sie nicht die geringste Beziehung zu diesem Besuche. Hugo verneigte sich; es lag noch eine helle Röthe auf seiner Stirn, als er, der Einladung folgend, an ihrer Seite Platz nahm.

„Ich bat darum – der Herr Consul glaubte mir in Ihrem Namen diese Unterredung versagen zu müssen, aber ich bestand auf der directen Anfrage bei Ihnen. Ich hatte ein besseres Vertrauen zu Ihrer Güte, gnädige Frau.“

Sie sah ihn groß und fragend an. „Sind wir uns so fremd geworden? Warum geben Sie mir diesen Namen?“

„Weil ich sehe, daß mein Besuch hier als ein unberechtigtes Eindringen angesehen wird, das man nur um des Namens willen, den ich trage, nicht entschieden zurückweist,“ versetzte Hugo mit einiger Bitterkeit. „Schon Herr Consul Erlau ließ mich das fühlen, und hier mache ich zum zweiten Male die Erfahrung. Und doch kann ich auch Ihnen nur wiederholen, daß ich ohne Auftrag, selbst ohne Wissen – eines Anderen hier bin und daß dieser Andere bis zur Stunde noch keine Ahnung von Ihrer Nähe hat.“

„Nun so bitte ich Sie, diese Nähe auch ferner ein Geheimniß bleiben zu lassen,“ sagte die junge Frau ernst. „Sie werden begreifen, daß ich nicht wünsche, meine Anwesenheit verrathen zu sehen, und S. ist immerhin weit genug entfernt, um das möglich zu machen.“

„Wer sagt Ihnen denn, daß wir unseren Aufenthalt in S. genommen haben?“ fragte Hugo etwas betreten über die Sicherheit dieser Annahme.

Sie wies nach den auf dem Tische liegenden Zeitungen. „Ich las heute Morgen, daß man dort zwei der ersten musikalischen Berühmtheiten erwartet. Die Nachricht ist verspätet, wie ich sehe, und Sie sind jedenfalls Gast Ihres Bruders.“

Hugo schwieg; er hatte nicht den Muth, ihr zu sagen, um wie vieles näher ihr der einstige Gatte war, und die Zeitungsnotiz konnte er sich leicht erklären, da er von der bevorstehenden Ankunft Beatricens wußte. Man war eben gewohnt, sie und Reinhold stets zusammen zu nennen, und wenn dieser auch jetzt noch in Mirando weilte, so setzte man sein Kommen doch als bestimmt voraus, sobald sie in S. eingetroffen. Im Grunde war es ja auch ein verabredetes Zusammentreffen zwischen den Beiden, ableugnen ließ sich das nicht.

„Aber weshalb dieses Verbergen?“ fragte er, den gefährlichen Punkt ganz unberührt lassend. „Sie sind es doch nicht, Ella, die eine etwaige Begegnung zu scheuen oder zu fliehen hat?“

„Nein! Aber meinen Knaben will ich um jeden Preis schützen vor der Möglichkeit einer solchen Begegnung.“

„Mit seinem Vater?“ Hugo legte einen vorwurfsvollen Nachdruck auf das letzte Wort.

„Mit Ihrem Bruder – ja!“

Der Capitain sah überrascht auf. Der Ton klang eiskalt, und starr und eisig lag es auf dem Antlitze der jungen Frau, das auf einmal den Ausdruck eines unbeugsamen Willens zeigte, wie ihn Niemand in dieser lieblichen Erscheinung gesucht hätte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 494. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_494.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)