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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

In und um Tirols Oberammergau.
1. Das Passionsspiel zu Brixlegg.


Es ist außerordentlich wohlthuend, von einem Völkchen, das wir Alle lieb haben, das durch sein Land, seine Geschichte, seine Sitten, Tracht, durch sein kerniges, ursprüngliches Wesen uns zu sich hinzieht und über das dennoch seit langer Zeit so viel des Betrübenden, Besorgniß und Bedauerniß Erregenden berichtet wird, endlich einmal wieder Etwas zu erfahren, das Zeugniß für die Unverwüstlichkeit einer von Haus aus gesunden Volksseele ablegt.

Daß es dem Alpenvolk Tirols nicht an Begabung fehlt, daß es nur unter allzulang geübter geistiger Verwahrlosung leidet, ist allbekannt. Trotz des besten Willens von gewisser Seite, Alles, was wie „irdische Lust“ aussieht, mit Stumpf und Stiel auszurotten, ist dies doch noch nicht in dem Maße gelungen, daß nicht wohlhabendere Thäler, in welche die Sonne breiter hinein scheinen kann, sich die Freude an allerlei Künsten bewahrt hätten. Zurückgegangen ist freilich Vieles. So wissen wir, daß eines der Kennzeichen der geistigen Frische des Gebirgsvolks, das Schnaderhüpfl-Improvisiren sammt diesem lebensvollen Volksgesang selbst, aus vielen Thälern, wo beides früher blühte, verschwunden und nur in wenigen noch erhalten ist; aber erhalten ist es eben doch noch, und ebenso steht der alte Sängerruf der Tiroler wenigstens in der Fremde noch aufrecht; und daß auch in anderen Künsten, wie in der Bildschnitzerei, Gepriesenes in Tirol geleistet wird, gehört ja auch zu den tröstlichen Anzeichen der noch nicht ganz ruinirten Gesundheit der alten Volksseele. Das beste Zeugniß für dieselbe ist die erst jetzt auch außerhalb Tirols allgemeiner bekannt werdende Begabung des dortigen Landvolks für mimische Kunst und die sich rasch verbreitende Liebe zu theatralischen Darstellungen. In fast allen größeren Tiroler Dörfern findet man Bauernkomödien, welche Rittergeschichten, Heiligengeschichten, Possen zur Darstellung bringen. „Des Judenwirths Roßknecht“, welcher in der Gartenlaube erst jüngst (Nr. 22) als „ein Bauerndramaturg im Hochgebirge“ unsern Lesern vorgestellt worden ist, hat seine Bühne in Brixlegg im Saale des Gasthauses zum goldenen Hirsch aufgeschlagen.

In früherer Zeit waren auch die Passionsspiele in Tirol ziemlich allgemein verbreitet; sie wurden aber theils wegen der in sie eingelegten, die Leidensgeschichte profanirenden, burlesken Rollen, theils wegen ihrer Ausartung in Rohheit mit obligater Schlägerei verboten, und bekanntlich blieb als Ueberrest aus alter Zeit nur das Passionsspiel zu Oberammergau in Oberbaiern. Seit dem Jahre 1868 hat man nun auch die Aufführung von Passionsspielen wieder vorgenommen, und zwar wiederum in Brixlegg.

Dieser Fortschritt und Erfolg des Unternehmungsmuthes ist wahrhaft erfreulich. Der alte Tirolerfreund Ludwig Steub, der nach früherem vergeblichem Trachten darnach gerade im Eröffnungsjahre des Passionsspiels in Brixlegg eine schöne Unterkunft fand, drückt seine Genugthuung darüber sogar in den tiefgefühlten Worten aus: „Hin und wieder geschieht es doch, daß dem Menschen schon hienieden ein Wunsch in Erfüllung geht.“ Und mit ehrlichstem Wohlgefallen hat er dann der ersten Passionsaufführung beigewohnt.

Ich lasse hier das reizende Brixlegg, wie seine nächste und weitere Umgebung ungeschildert, um der Passionsaufführung unsere Aufmerksamkeit ausschließlich zuzuwenden. Nur Das möchten wir noch vorausschicken, daß die Lage von Brixlegg in dem gesegneten Unterinnthale und an der Eisenbahn von Kufstein nach Innsbruck, sowie an der Mündung volkbelebter Thäler, wie des Ziller- und Alpbachthals, den dortigen Passionsspielen nicht nur ein starkes Publicum aus der Nähe sichert, sondern auch aus weitester Ferne leichter zuführt, als dies für das vom Weltverkehr abgelegene Oberammergau möglich ist. Wie da, sind auch dort die Spieltage große Volksfesttage, welche mit Musik begrüßt, gefeiert und beschlossen werden.

Der erste Festmorgen ist da. Schon um sieben Uhr wimmeln die Gassen und rauscht die Musik. Den Beginn des Spiels verkünden drei Kanonenschüsse. Da eilen auch wir zur Brücke am Alpbach, denn dort ist für die Passionsspiele aus Brettern in großem Maßstabe ein Theatergebäude in Gestalt eines Rechtecks von achtundvierzig Fuß Breite und hundertzweiundfünfzig Fuß Länge erbaut, welches gegen dreitausend Personen faßt, obwohl Bühne und Orchester fast ein Drittheil des ganzen Gebäudes in Anspruch nehmen. Zwei Logen und gegen rückwärts sich zweckmäßig erhöhende Sitzbänke bilden die verschiedenen Rangclassen der Plätze.

Die Bühne und der Zuschauerraum sind vollständig gedeckt, sodaß man gegen Sonne und Regen geschützt ist, ein entschiedener Vorzug vor der Anlage des Oberammergauer Theaters. Vor der Mittelbühne ist ein geräumiges Proscenium angelegt, an dessen beiden Seiten die Häuser des Pilatus und des Hohen Priesters sich finden. Um Licht auf die Bühne zu bringen, hat man das Dach über dem Proscenium erhöht und mit Glas gedeckt. Zu beiden Seiten der Mittelbühne laufen Seitengassen aus, deren Wände entsprechend bemalt sind. Der innere Vorhang enthält ein perspectivisches Gemälde der Stadt Jerusalem und bildet den geeignetsten Hintergrund der Vorbühne, auf welcher gespielt und gesungen wird, während gleichzeitig hinter demselben das Stellen der lebenden Bilder, die Verwandlung der Decorationen für die nächste Vorstellung vom Publicum ungesehen vorgenommen werden kann.

Der äußere Vorhang stellte 1868 nach L. Steub’s Schilderung „das Dorf Brixlegg mit seiner Kirche, dem Herrenhause und anderen namhaften Gebäuden, den Hüttenwerken, dem Bahnhof und zwei dampfenden Zügen, sowie die gesammte Berglandschaft wahrheitsgetreu vor Augen.“ Er bittet um milde Beurtheilung desselben, da Anton Windhager, damals Gehülfe im nahen Bade Mehren, ihn umsonst gemalt habe. Die übrigen Decorationen stammten damals von Franz Staudacher, Tischlermeister und Maler zu Rattenberg, her.

Jene erste Aufführung hatte die Finanzen der Gesellschaft in den Stand gesetzt, für die Aufführung von 1873 nicht nur das Theatergebäude zu erweitern und zu verbessern, sondern auch namentlich für Decorationen und Costüme bedeutende Summen zu verwenden. So sind die Decorationen von einem der gesuchtesten Theatermaler Tirols, Joseph Bartinger in Innsbruck, gefertigt, und die prachtvollen Costüme, ganz wie in Ammergau nach den Gemälden Albrecht Dürer’s ausgeführt, hat man von Fumagalli in Innsbruck für viertausend Gulden angekauft. Bei dieser Gelegenheit mag gleich bemerkt werden, daß die Verwaltung des Theaters in den Händen eines Comités liegt. Die Proben leitet ein schlichter Bauersmann Andrä Obinger.[1] Musik und Chor dirigirt ebenfalls ein Dilettant, Dr. Leiter, ein Beamter bei der Servitutenablösungscommission aus dem nahen Rattenberg. Aller fünf Jahre sollen Passionsspiele veranstaltet werden; für 1873 hatte man alle Montage der Monate Juni, Juli, August und September festgesetzt und das Spiel begann Vormittags halb zehn Uhr und dauerte, durch eine anderthalbstündige Pause unterbrochen, bis Nachmittags fünf Uhr. Derartigen Anordnungen ist, wenn sie sich einmal bewährt haben, ihr Bestand auch für die künftigen Zeiten gesichert.

Was nun Text und Musik zum Passionsspiel betrifft, so ist Beides in Oberammergau für dreihundert Gulden angekauft worden.[WS 1] Es hat mir aber geschienen, als ob ersterer an Schwung der Sprache und Adel des Ausdrucks dem zu Oberammergau bedeutend nachstehe. Entweder haben die Ammergauer den Concurrenten in Brixlegg ihren Text nicht in seiner letzten vollkommenen Gestaltung abgetreten oder die Brixlegger Acteurs haben ihn für sich mundrecht gemacht. Denn derartige landläufige Ausdrücke, wie sie Pilatus den Juden gegenüber gebraucht: „Nun, so geht und laßt mich in Zukunft ungeschoren!“ kamen in Ammergau nicht vor. Ebenso hatte man in Ammergau störende sprachliche Incorrectheiten, wie Verwechselung der Casus, schlechte Aussprache der Vocale, worin besonders der Chorführer etwas

  1. In demselben haben wir auch unsern „Bauerndramaturg im Hochgebirg“ vor uns, dessen Name in jenem Artikel ungenannt geblieben ist. Herr Obinger schreibt uns selbst, daß er 1870 aus Gefälligkeit die Führung und Besorgung der Laufpferde des Judenwirths übernommen und zwei und ein Viertel Jahr behalten, bis das Passionsspiel ihn ganz in Anspruch genommen. Director des dortigen Localtheaters sei er schon seit siebenundzwanzig Jahren.
    Anmerk. d. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. vergleiche die dazugehörige Berichtigung
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 501. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_501.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)