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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

nur die blaue wogende Unermeßlichkeit, die sich fernhin dehnte in unbegrenzter Weite.

Reinhold verharrte regungslos in seiner Stellung; er mochte mit keiner Bewegung den Zauber dieser Minute stören. Wehte es doch auf einmal zu ihm herüber wie ein Hauch der alten Sagenpoesie seiner Heimath, die er längst vergessen, und die mit ihrem schwermüthig süßen Reiz in diesem Augenblicke wieder vor ihm auftauchte. Aber die tiefe Stille wurde plötzlich unterbrochen durch das helle Jauchzen einer Kinderstimme. Ein Knabe von sieben oder acht Jahren stürmte die Stufen zur Terrasse herauf, eine große, glänzende Muschel in der Hand, die er irgendwo am Ufer aufgelesen haben mochte. Das Kind war sichtlich voll Entzücken über seinen Fund; das ganze kleine Gesicht strahlte, als er mit glühenden Wangen und fliegenden Locken auf die Dame zueilte, die sich auf seinen Ruf umwandte.

Mit einem halb unterdrückten Aufschrei fuhr Reinhold auf und stand dann wie in dem Boden festgewurzelt. In dem Momente, wo sie ihm das Gesicht voll zuwendete, erkannte er die Fremde, die Ella’s Züge trug und doch nicht Ella sein konnte. Betäubt, todtenbleich starrte er die Frau an, deren poetische Erscheinung er soeben noch bewundert und die doch Zug um Zug seiner so sehr mißachteten und schließlich verlassenen Gattin glich. Auch sie hatte ihn erkannt; das bewies die tiefe Blässe, die auch ihr Antlitz überflog, bewies auch ihr jähes Zurückweichen. Sie faßte nach der Marmorbalustrade, wie um einen Halt zu suchen, aber jetzt hatte der Knabe sie erreicht, und seine Muschel mit beiden Händen emporhaltend, rief er triumphirend:

„Mama! Liebe Mama, sieh nur, was ich gefunden habe!“

Das riß Reinhold aus seiner Erstarrung. Betäubung, Schreck, Erstaunen, das Alles verschwand, als er die Stimme seines Kindes vernahm. Nur der Eingebung des Augenblickes folgend, stürzte er vorwärts und streckte die Arme aus, um den Knaben stürmisch an seine Brust zu reißen.

„Reinhold!“

Almbach hielt betreten inne, aber der Name galt nicht ihm, sondern dem Knaben, der, dem Rufe augenblicklich gehorchend, zur Mutter eilte. Mit einer raschen Bewegung legte sie beide Arme um ihn, als wolle sie ihn schützen oder verbergen, und richtete sich dann empor. Noch war die Blässe nicht von ihrem Antlitze gewichen, und die Lippen bebten noch, aber die Stimme klang fest und energisch.

„Du darfst Fremde nicht belästigen, Reinhold. Komm’, mein Kind! Wir wollen gehen.“

Almbach zuckte zusammen und trat einen Schritt zurück; der Ton war ihm so neu, wie das ganze Wesen derjenigen, die er einst seine Gattin genannt. Hätte er nicht ihre Stimme erkannt, er würde jetzt mehr als je an eine Täuschung geglaubt haben. Der Kleine dagegen blickte bei dem Vorwurf verwundert auf. Er war dem fremden Herrn ja nicht einmal nahe gekommen und hatte ihn sicher nicht belästigt, aber er sah an der Blässe und Aufgeregtheit der Mutter, daß irgend etwas Ungewöhnliches vorging, und die großen blauen Augen des Kindes richteten sich trotzig, fast feindselig auf den Unbekannten, von dem es instinctmäßig errieth, daß er es sei, der die Mama so erschreckt habe.

Ella hatte sich bereits wieder gefaßt. Sie wandte sich zum Gehen, den Arm noch immer fest um die Schulter ihres Knaben gelegt, aber Reinhold vertrat ihr jetzt heftig den Weg – sie mußte stehen bleiben.

„Wollen Sie die Güte haben, uns vorüber zu lassen?“ sagte sie kalt und fremd. „Ich bitte darum.“

„Was soll das, Ella?“ brach Reinhold jetzt in leidenschaftlicher Erregung aus. „Du hast mich so gut erkannt, wie ich Dich. Wozu dieser Ton zwischen uns?“

Sie sah ihn an; in dem Blicke lag die ganze Antwort, eiskalte niederschmetternde Verachtung. Er hatte es freilich nie für möglich gehalten, daß Ella’s Augen so blicken konnten, aber er wandte sein Angesicht vor ihnen zu Boden.

„Wollen Sie die Güte haben, uns den Weg frei zu geben, Signor?“ wiederholte sie in vollkommen reinem Italienisch, als nehme sie an, er habe die deutsche Anrede nicht verstanden. Es lag ein entschiedener Befehl in den Worten, und Reinhold – gehorchte. Ganz fassungslos wich er zur Seite und ließ sie vorüber. Er sah, wie sie mit dem Kinde die Stufen hinabstieg, wie dort unten ein Diener in fremder Livree, der gewartet zu haben schien, sich ihnen anschloß, und wie alle Drei durch die Gärten davon eilten; er selbst aber stand noch immer oben auf der Terrasse und besann sich, ob er denn geträumt habe und das Ganze nur ein Gebilde seiner Phantasie sei.

Das geräuschvolle Schließen der Thür, die in den Gemäldesaal führte, brachte ihn wieder zur Besinnung. Mit wenigen Schritten stand er dort, und die Thür ungestüm aufreißend, trat er in den Saal, wo der Verwalter von Mirando soeben beschäftigt war, die Vorhänge wieder niederzulassen, die er der besseren Beleuchtung wegen aufgezogen hatte.

„Wer war die Dame mit dem Kinde, die sich soeben hier auf der Terrasse befand?“ Mit dieser hastigen Frage stürmte Reinhold auf den Mann ein, der sehr bestürzt schien, als er den Gast seines Herrn, den er noch in S. vermuthete, so plötzlich vor sich sah; er zögerte in sichtlicher Verlegenheit mit der Antwort.

„Verzeihung, Signor – ich hatte keine Ahnung davon, daß Sie schon zurück seien, und da Eccellenza und der Signor Capitano erst gegen Abend erwartet werden, so hatte ich mir erlaubt –“

„Wer war die Dame?“ drängte Reinhold in fieberhafter Ungeduld, ohne auf die Entschuldigung zu achten. „Woher kam sie? Schnell! Ich muß es wissen.“

„Drüben aus der Villa Fiorina,“ sagte der Verwalter, halb verwundert, halb erschreckt über das Ungestüm des Fragenden. „Die fremde Signora wünschte Mirando zu sehen und ließ durch ihren Diener anfragen. Eccellenza haben freilich befohlen, während ihres Hierseins keine Besucher einzulassen, aber es war ja heute Morgen Niemand von den Herrschaften anwesend, und da glaubte ich eine Ausnahme machen zu dürfen.“ Er hielt inne und setzte dann im Tone der Bitte hinzu: „Es würde mir freilich große Ungelegenheiten bei Eccellenza bereiten, wenn Signor Rinaldo es ihm mittheilen wollten.“

„Ich? Nein,“ sagte Reinhold wie abwesend. „Und wie nannte sich die Dame?“

„Erlau, wenn ich recht verstanden habe.“

„Erlau – so?“ Almbach fuhr mit der Hand über die Stirn. „Es ist gut, Mariano; ich danke Ihnen,“ sagte er und verließ den Saal.




Der Tag war glühend heiß geworden, und auch der Abend brachte weder Kühle noch Erfrischung. Luft und Meer schienen von keinem Hauche bewegt, und die Sonne ging in heißen Dunstwolken nieder. Auch in der Villa Fiorina schien man von der Gluth zu leiden. Die Bewohner hielten sich vermuthlich drinnen in den kühleren Zimmern, denn die Jalousien waren während des ganzen Tages nicht geöffnet worden und die Glasthüren, welche nach der Terrasse führten, blieben geschlossen. Die deutsche Familie bewohnte das weitläufige Gebäude, das sie für sich allein in Anspruch genommen hatte, kaum zur Hälfte. Einige Zimmer rechts vom Gartensaale waren für den Consul eingerichtet worden; die auf der andern Seite gelegenen bewohnte dessen Pflegetochter mit ihrem Kinde; die Dienerschaft war in den hinteren Räumen untergebracht, und das Uebrige stand leer.

Es war schon in vorgerückter Abendstunde, als Ella in den von einer Lampe erhellten Gartensaal trat. Der Consul hatte sich bereits zur Ruhe begeben, und die junge Frau kam von ihrem Knaben, den sie, nachdem er eingeschlummert war, der Obhut seiner Wärterin überließ. Vielleicht war es der matte Lampenschein, der ihr Antlitz auch jetzt noch so blaß erscheinen ließ; seit dem heutigen Morgen war die Farbe noch nicht wieder darauf zurückgekehrt, wenn auch die Züge selbst vollkommen ruhig erschienen.

Sie öffnete die Glasthür und trat auf die Terrasse. Draußen herrschte bereits völlige Dunkelheit; kein Mondstrahl drang durch das Gewölk, das noch immer den Himmel umzogen hielt, kein Hauch des Seewindes bewegte die blühenden Gesträuche. Schwül und schwer, schien die Luft auf der Erde förmlich zu lasten, und das Meer lag in träger Ruhe, fast regungslos. Es war beängstigend in dieser schwülen Stille und Dunkelheit; dennoch schien Ella sie dem Aufenthalt in dem erhellten Gartensaale vorzuziehen; sie stand wie heute Morgen an die Steinbalustrade gelehnt, zur Hälfte noch in dem matten Lichtkreise, der aus der geöffneten Thür auf die Terrasse fiel und die helle Gestalt, wenn auch undeutlich, erkennen ließ.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 509. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_509.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)