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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Wirkung aus; es fehlt ihnen der echt dramatische Nerv, da das Talent des Dichters wesentlich ein episches und lyrisches ist.

Auch Romane hat Julius Große geschrieben, verehrte Freundin. Der Roman ist die Poesie in Schlafrock und in Pantoffeln. Ein geistreicher Romanschriftsteller verdient gewiß alle Anerkennung, aber wenn die geborenen Poeten, „denen die ewigen Melodien durch die Glieder sich bewegen“, Erzählungen und Romane schreiben, so kann man dies gewiß mit Recht für eine Nebenbeschäftigung halten, auf welche kein sonderliches Gewicht zu legen ist. Auch in einem Romane kommt Große noch einmal auf die Seelenwanderung zurück. Doch wenn wir im Rausche des poetischen Mohns und Hanfs träumen sollen, so träumt es sich doch besser in Versen als in Prosa. Da ist Abul-Kazim mehr mein Mann, zumal er sich auch einmal in ein schönes Weib verwandelt hat.

Avis au lecteur, verehrte Freundin – und – träumen Sie süß!




Felix von Niemeyer.


Aus den Erinnerungen einer Arztes. Von Dr. Fritz Keppler.


Es ist ein eigenthümlich wohliges Gefühl, wenn man, von schwerer Krankheit erstanden, planlos durch Wald und Feld schwärmt, seit langer Zeit zum ersten Male wieder im Vollgefühle seiner alten körperlichen Kraft. Luft und Licht berauscht uns; voller klopft das Herz in der Brust; heißer und schneller jagt das Blut durch die schwellenden Adern; fröhliche Lebenslust weht uns frisch um die Wangen, und alle Jugendthorheiten, die wir längst begraben wähnten, winken uns verführerisch von Neuem.

Es war am Abende eines Tages, an dem alle Frühlingsfreuden der Wiedergenesung jauchzend durch meine Seele gezogen waren, als ich in den luftigen Raum des Cannstatter Sommertheaters trat. Nur mit Mühe drang ich zu meinem Platze durch, der von dem aufgebauschten Seidenkleide einer recht ansehnlichen Schönen fast verdeckt war. Ihr rundes, rothwangiges Gesicht, aus dem zwei große blaue Augen mich verwundert anstarrten, schien mir fast bekannt zu sein, und dennoch kannt’ ich’s nicht, bis, wie mit sich selber sprechend, die vollen Lippen einige unbeholfene Reime kaum vernehmlich zu mir herüberhauchten. Ich erkannte sofort ein arg sentimentales Liebesliedchen, das ich vor Jahren als unfertiger Gymnasiast zusammengeleimt, und wie Schuppen fiel’s jetzt von meinen Augen. Die üppige Schönheit neben mir, die mit so unsäglichem Behagen auf die derben Späße der schönen Helena gelauscht, war die Muse meiner Gymnasiastenjahre, die sentimentale Emma, der ich all die blaßblauen Blümlein, wie sie mein Frühlingsgarten unter Wind und Sonnenschein getragen, vor Zeiten zu Füßen gelegt. Schon längst waren die rührenden Abschiedsworte, mit denen sie mich auf die hohe Schule entlassen, vom Pfeifen der Quarten und Terzen übertäubt worden, die dort meine Ohren umschwirrten, und lebendigere Gestalten hatten ihr Bild bereits aus meiner Erinnerung verdrängt. Wie war die zarte Blume von damals in Saft und Kraut geschossen während der wenigen Jahre, in denen ein altbackener Primaner zum neugebackenen Doctor geworden! Auch sie schien die Veränderungen, die mit dem dummen Jungen von Ehemals vorgegangen, nicht ohne Verwunderung zu bemerken: mit süßem Lächeln schielte sie nach dem vollen Schnurrbarte herauf, der meine noch vom Gluthhauche des Typhus gebleichten Wangen umsäumte.

Wir freuten uns herzlich, vielleicht etwas zu herzlich des Wiedersehens und hatten uns Beide viel zu sagen. So nebenbei – Menelaus sang gerade sein abgeschmacktes Couplet – sprach sie auch von ihrem Manne: er war Theilhaber an einer bekannten Kleiderfabrik und viel auf Reisen. Es ist eine alte Geschichte: „Man kommt immer wieder auf seine erste Liebe zurück.“ So ging es auch uns Beiden, und als die schöne Helena auf der Bühne ihr Traumlied zu singen begann, ward, entsprechend dem Local, auch unsere Stimmung eine gehobene, und wir fingen an, uns in kühne Träume zu versenken, ohne immer die nöthige Rücksicht auf unsere Umgebung zu nehmen. Da legte sich eine leichte Hand auf meine Schulter, und eine tiefe Stimme sprach hinter uns:

„Herr Doctor, ich denke, es ist hoch an der Zeit, die Saison zu beschließen.“

Ein schöner Mann, mit einfachster Eleganz gekleidet, trat vor mich und sah mir mit großen glänzenden Blicken ernst in die Augen, die ich erröthend vor ihm niederschlug. Ein feines Lächeln spielte um seinen weichgeformten Mund, als er, sich tief vor der Dame verbeugend, mich sanft am Handgelenke zum Theater hinauszog, ohne mir Zeit zu lassen, von meinem wiedergefundenen Liebchen Abschied zu nehmen.

„Da wären wir wieder einmal zur rechten Stunde gekommen, um einen guten Jungen vor einem dummen Streiche zu bewahren,“ flüsterte er mir vor der Thür in’s Ohr.

Tief beschämt folgte ich dem treuen Eckard, der mir diese Worte zugerufen. Es war mein liebenswürdiger Lehrer, der gefeierte Arzt Felix von Niemeyer, der auch als trefflicher Docent weithin bekannte Verfasser des berühmten Lehrbuchs der Pathologie und Therapie (nunmehr ist neun Auflagen erschienen).

„Was nun?“ sprach er weiter, indem er mich von der halbgeöffneten Theaterpforte wegzog. „Das Einfachste ist, ich nehme Sie gleich mit mir wiederum nach Tübingen zurück, wo Sie noch genug lernen können, wenn Sie gleich ein preisgekrönter Doctor sind, hier machen Sie mir doch nur dumme Streiche, wie das eben Erlebte zeigt.“

„Aber, Herr Professor!“ fiel ich ihm in’s Wort.

„Was aber!“ unterbrach er mich. „Die Frau Mutter hat nichts dagegen einzuwenden; mit der habe ich mich bereits verständigt, als ich heute wieder einmal nach ihrem kranken Jungen sehen wollte, den ich wider mein Erwarten schon ausgeflogen fand. Also Kehrt gemacht und mit zum Bahnhofe gegangen! Es ist hohe Zeit, wenn wir den Zug noch erreichen wollen“

„Aber, Herr Professor!“ rief ich in ziemlicher Verlegenheit.

„Ah so! wir haben wieder einmal unser letztes Geld in’s Theater getragen,“ meinte er lächelnd. „Macht nichts – es ist ja nicht das erste Mal, daß wir einander aushelfen.“

Damit schob er seinen Arm in den meinigen und zog mich nach dem Bahnhofe, in den unser Zug soeben hereinbrauste. Rasch schob er mich in ein Coupé erster Classe. Sein Gepäck war bereits in Stuttgart darin untergebracht worden, denn bei der großartigen ärztlichen Praxis, die er dort hatte, und als Leibarzt des Königs von Württemberg war er genöthigt, allwöchentlich mehrere Male von Tübingen nach Stuttgart hinabzufahren und hatte deshalb ein eigenes Coupé auf immer für sich gemiethet. Dasselbe war hübsch wohnlich eingerichtet; sogar ein Schachbrett stand auf dem Tische, neben diesem und auf dem Sopha herum lag ein Haufen von politischen und medicinischen Zeitungen und ein Bündel Krankengeschichten.

„Machen wir eine Partie Schach!“ meinte der Professor und bot mir, während er selber eine anbrannte, seine Cigarren an. Ich griff mit Vergnügen zu, denn er rauchte die feinsten Havannacigarren. Als wir in den Bahnhof von Plochingen einfuhren, war ich, und zwar auf die eleganteste Weise, matt gemacht. In der Bahnhofsrestauration ließ er ein ausgezeichnetes Abendessen für uns auftragen und schenkte mir fleißig von dem vortrefflichen Untertürkheimer Rothweine ein. Dazwischen erkundigte er sich bald scherzend, bald mit ernster und liebevoller Theilnahme nach dem Befinden der aus- und eingehenden schwäbischen Reisenden, denn er kannte fast halb Württemberg persönlich und war seiner Freundlichkeit halber in allen Kreisen meines Heimathlandes gleichermaßen beliebt. Die hohe Verehrung, die das schwäbische Volk noch heute seinem Andenken weiht, ist der beste Beweis für die seltene Liebenswürdigkeit des großen Arztes; ich weiß nur noch einen Preußen, der sich bei seinen Lebzeiten einer ähnlichen Beliebtheit bei meinen gegen alles norddeutsche Wesen von Haus aus so sehr mißtrauischen und voreingenommenen Landsleuten erfreut hat und der, ähnlich wie Felix von Niemeyer, noch lange Jahre nach seinem Tode in der Erinnerung des schwäbischen Volkes fortleben wird; es ist Paul Konewka, der jugendliche Landsmann Niemeyer’s.

„Wie wär’s, wenn wir einen Gang durch den Eisenbahnzug


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 515. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_515.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)