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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

„Umkleiden? Ja so, das hatte ich vergessen.“

„So thue es jetzt!“ drängte Hugo. „Willst Du denn Deine Gesundheit durchaus zu Grunde richten?“

Reinhold wehrte ihn ungeduldig ab. „Laß doch! Welch ein Aufheben um einen Gewitterregen!“

„Nun, der Gewitterregen hätte um ein Haar verhängnißvoll für uns werden können,“ meinte der Capitain. „Uebrigens kann ich als Pilot meiner Schiffsbesatzung das Zeugniß geben, daß sie sich tapfer gehalten hat, mit alleiniger Ausnahme Donna Beatricens. Sie machte von dem Rechte einer Dame, uns erst in Gefahr zu bringen und sie uns dann noch zehnfach zu erschweren, einen etwas ausgedehnten Gebrauch.“

„Dafür hast Du ja auch den Triumph, daß sie Dir ihr Leben verdankt, wie wir Alle,“ warf Reinhold gleichgültig hin.

Hugo fixirte den Bruder scharf. „Was Du für Deine Person sehr wenig zu gelten scheint.“

„Mir – warum?“

Er wartete die Antwort nicht ab, sondern wandte sich wieder dem Fenster zu, aber Hugo war bereits an seiner Seite und legte den Arm um seine Schulter.

„Was hast Du, Reinhold?“ fragte er wieder mit dem Tone jener alten Zärtlichkeit, mit der er einst den jüngeren Bruder umfaßte, den er im Hause der Verwandten unterdrückt und gequält wußte, und die jetzt so selten unter ihnen geworden war. Reinhold schwieg.

„Ich hoffte, Du würdest hier endlich die Ruhe finden, die Du so leidenschaftlich suchtest,“ fuhr der Capitain ernster fort, „statt dessen stürmst Du ärger als je seit den letzten acht Tagen. Wir sind kaum mehr als dem Namen nach die Gäste des Marchese. Du reißest ihn und uns alle mit hinein in diesen ewigen Wechsel von Zerstreuungen und Ausflügen. Das geht vom Schiffe in den Wagen, und vom Wagen auf das Maulthier, als ob Dir jede Minute des Ausruhens oder Alleinseins zur Qual würde, und sind wir erst mitten in dem Wirbel, so bist Du oft genug der steinerne Gast in unserer Mitte. Was ist vorgegangen?“

Reinhold wand sich, nicht heftig aber entschieden, aus seinen Armen.

„Das – kann ich Dir nicht sagen.“

„Reinhold –“

„Laß mich – ich bitte Dich!“

Der Capitain trat zurück; er sah, daß die Abweisung nicht einer Laune entsprang; der matte gepreßte Ton verrieth zu sehr den verhaltenen Schmerz, aber er wußte bereits, daß von seinem Bruder in solcher Stimmung nichts zu erreichen war.

„Das Gewitter scheint vorüber zu sein,“ sagte er nach einer kurzen Pause, „an die Rückkehr aber wird wohl vorläufig noch nicht zu denken sein. Auf das erregte Meer können wir uns heute unter keinen Umständen wieder wagen, und der Landweg wird auch arg genug zugerichtet sein. Ich habe den Herren versprochen, ihnen einigermaßen Auskunft darüber zu verschaffen, ob die Rückkehr heute überhaupt noch möglich ist, und ob wir nicht etwa einen zweiten Wolkenbruch zu gewärtigen haben. Die Veranda da oben scheint eine ziemlich freie Aussicht zu bieten; ich werde nachsehen.“

Er verließ das Gemach und stieg die Treppe hinauf. Die Veranda lag an der anderen Seite des Hauses; es war ein großer steinerner Anbau, der wohl noch aus einer früheren Glanzperiode des Gebäudes stammte, jetzt, wie dieses selbst, verwahrlost, halb zerfallen, aber unendlich malerisch in diesem Verfall und mit den wuchernden Weinranken, die sich um Pfeiler und Brüstungen schlangen. Eine lange offene Gallerie führte hinüber, und Hugo war eben im Begriff, sie zu durchschreiten, als er aufgehalten wurde. Dicht vor ihm flatterte eine Taube auf, und ihr nach jagte ein Knabe in vornehm städtischem Anzuge. Das zahme, an Menschen gewöhnte Thier dachte nicht an ernstliche Flucht; es flatterte, wie neckend, am Boden hin, und erst als die kleinen Arme sich ausstreckten, um es zu haschen, schwang es sich leicht empor bis auf das Dach des Hauses, während der ungestüme kleine Verfolger noch im vollen Laufe vorwärts stürzte und dabei gegen den Capitain anrannte.

„Sieh da, Signorino, das hätte ein Zusammenstoß werden können,“ sagte Hugo, indem er den Kleinen auffing, dieser aber, noch im vollen Eifer der Jagdlust, streckte beide Hände in die Höhe und rief lebhaft in deutscher Sprache:

„Ich möchte den Vogel so gern haben. Kannst Du ihn mir nicht fangen?“

„Nein, mein kleiner Jäger, das kann ich nicht, ich müßte mir denn Flügel anbinden,“ scherzte Hugo, während er, überrascht, hier seine Muttersprache zu vernehmen, den Knaben genauer ansah. Er stutzte, sah ihm einige Secunden lang tief in die Augen, und hob ihn dann plötzlich empor, um ihn mit aufflammender Zärtlichkeit in seine Arme zu schließen.

Der Kleine ließ sich die Liebkosung ruhig, wenn auch etwas verwundert, gefallen. „Du sprichst ja grade wie die Mama und Onkel Erlau,“ sagte er zutraulich. „Die Anderen verstehe ich alle nicht, und zu Haus verstand ich doch Jeden.“

„Ist die Mama auch hier?“ forschte Hugo hastig.

Das Kind nickte und zeigte nach der anderen Seite hinüber; der Capitain setzte es rasch auf den Boden und trat mit ihm in die Veranda, wo Ella ihnen bereits entgegenkam, die in sprachlosem Erstaunen stehen blieb, als sie ihren Knaben an der Hand seines Oheims erblickte.

„Müssen wir hier zusammentreffen!“ rief dieser, sie lebhaft begrüßend. „Ich glaubte kaum, daß Sie die Villa Fiorina überhaupt verließen, und noch dazu in solchem Wetter.“

„Es war auch der erste Ausflug, den wir wagten,“ erwiderte die junge Frau. „Das fortgesetzt günstige Befinden des Onkels verleitete uns, eine Fahrt nach den Tempelruinen oben im Gebirge zu unternehmen, aber auf dem Rückwege überfiel uns das Gewitter, und da die Pferde scheu zu werden drohten, so waren wir froh, hier Schutz und Aufnahme zu finden.“

„Wir sind in dem gleichen Falle,“ berichtete Hugo, „Nur ging es uns schlimmer, denn wir kamen zur See an.“

Ueber Ella’s Antlitz flog ein momentanes Erbleichen.

„Wie? Sie sind also in Begleitung Ihres Bruders? Ich ahnte es, als ich Sie erblickte.“

Hugo machte eine bejahende Bewegung. „Sie sagten mir, daß Sie eine Begegnung um jeden Preis vermeiden wollten –“ begann er von Neuem.

„Ich wollte es, ja!“ unterbrach sie ihn fest. „Es ist aber unmöglich gewesen. Wir haben uns bereits gesehen.“

„Dachte ich’s doch!“ murmelte der Capitain. „Daher also seine unbegreifliche Stimmung.“

„Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie die Gäste des Herrn von Mirando sind?“ fragte die junge Frau vorwurfsvoll. „Ich glaubte Sie in S. und kam ahnungslos, die Villa zu besichtigen. Erst als es zu spät war, erfuhr ich, wer in unserer nächsten Nachbarschaft weilte.“

Hugo streifte mit einem raschen Blick ihr Antlitz, als wolle er sich ihrer Fassung versichern.

„Sie haben Reinhold gesprochen?“ sagte er in äußerster Spannung, ihren Vorwurf kaum beachtend. „Nun?“

„Nun?“ wiederholte sie mit beinahe herbem Ausdruck. „Fürchten Sie nichts! Signor Rinaldo weiß jetzt, daß er mir und meinem Sohne fern zu bleiben hat. Er wird uns nicht kennen bei einem etwaigen Zusammentreffen, so wenig wie ich ihn kennen werde.“

„Für heute wäre das allerdings unmöglich,“ entgegnete Hugo ernst, „denn er ist nicht allein. Ich fürchte, Ella, auch das wird Ihnen nicht erspart bleiben.“

„Sie meinen eine Begegnung mit Signora Biancona?“ Ella’s Lippen bebten doch, als sie den Namen aussprach, so sehr sie sich auch zwang, ruhig zu scheinen. „Nun denn, wenn es nicht zu vermeiden ist, so werde ich es zu ertragen wissen.“

Sie waren während des Gespräches an die Brüstung der Veranda getreten. Das Gewitter war in der That vorüber und die Schleußen des Himmels schienen sich endlich erschöpft zu haben, aber noch hing es feucht und regenschwer in der Luft. Die nassen Weinranken, vom Sturm zerwühlt und zerrissen, flatterten noch immer auf und nieder, und von dem Heiligenbilde in der nur schlecht geschützten Mauerblende rannen die Tropfen herab. Unten brauste das noch immer wild empörte Meer; der sonst so ruhige azurblaue Spiegel war nur ein wüstes Chaos von schwarzgrauen Fluthen und weißschäumenden Wellenhäuptern, die sich zischend und tosend am Strande brachen. Aber der Nebel, der bisher die ganze Umgebung in einen undurchdringlichen Schleier hüllte, begann endlich zu weichen, schon traten einige Ortschaften deutlich daraus hervor, nur um die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 525. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_525.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)