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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

No. 35.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Wir grüßen Euch, Ihr Todten!

(Zur Sedan-Feier)

Wenn der Frühling kommt gegangen
Blüthenreich vom Süden her,
Nah’n die Sänger auch, die lieben,
Die der Herbst uns fortgetrieben

5
In die Fremde – über’s Meer.


Nach der Heimath zieh’n sie wieder,
Hin nach Deutschland, froh geschaart;
Aber fern im fränk’schen Lande,
Am Loire- und Seinestrande

10
Rasten sie von langer Fahrt.


Ihre ersten Lieder singen
Sie an deutschen Gräbern dort.
Und der Heimath Stimme dringet,
Und ihr trautes Lied erklinget

15
Zu der Schläfer stillem Ort.


Und wenn nach des Sommers Freuden
Sie in neu verjüngter Schaar
Nach dem Süden müssen wieder,
Thun sie sich noch einmal nieder

20
An der Seine und Loire.


Dort, wo im Franzosenlande
Ruht manch’ Herz, manch’ deutsch’ Gemüth,
Wo auf theurer Gräber Höhen
Nur des Feldes Blumen stehen,

25
Singen sie ihr letztes Lied.


Wo im Walde die „Vermißten“
Schlafen heimlich – unerfragt,
Wird es laut von Vogelkehlen,
Die den Schläfern treu erzählen,

30
Wie daheim die Liebe klagt. –


Laßt sie schlafen! Ob den Todten
Keinen Kranz die Fremde flicht:
Alle Jahre wird mit süßen
Liedern sie die Heimath grüßen,

35
Und die Heimath stirbt ja nicht.




Gesprengte Fesseln.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


„Ich wollte, Eleonore, wir wären in der Villa Fiorina geblieben und hätten die Uebersiedelung hierher unterlassen,“ sagte der Consul Erlau, indem er vor seiner Pflegetochter stehen blieb, die er bei seinem unvermutheten Eintritte in ihr Zimmer in Thränen überrascht hatte. „Ich sehe, daß ich Dir doch damit allzuviel zugemuthet habe.“

Die junge Frau hatte rasch die Spuren des Weinens vertilgt und lächelte jetzt mit einer Ruhe, die einen Fremden wohl hätte täuschen können.

„Ich bitte Dich, lieber Onkel, quäle Dich doch nicht mit Besorgnissen meinetwegen! Wir sind Deinetwillen hier, und wir wollen Gott danken, wenn Deine Genesung, die im Süden so vielversprechend begann, sich hier vollendet.“

„Ich wollte aber doch, Doctor Conti säße an jedem andern Orte der Welt,“ versetzte der Consul ärgerlich, „nur nicht gerade in der Stadt, die wir um jeden Preis vermeiden wollten, und wo ich mich nun nothgedrungen seiner Behandlung unterwerfen muß. Armes Kind, ich wußte, daß Du mir ein Opfer brachtest mit dieser Reise; wie groß es ist, das lerne ich erst jetzt einsehen.“

„Es ist kein Opfer, wenigstens jetzt nicht mehr,“ sagte Ella fest. „Ich fürchtete nur die Möglichkeit einer ersten Begegnung. Nun ist diese überwunden und das Uebrige mit ihr.“

Erlau prüfte forschend und etwas argwöhnisch ihre Züge. „So! Warum hast Du denn geweint?“

„Onkel, man ist nicht immer Herr seiner Stimmung. Ich war eben niedergeschlagen.“

„Eleonore!“ Der Consul setzte sich neben sie und nahm ihre Hand in die seinige. „Du weißt, ich habe es nie verwinden können, daß jenes unselige Verhältniß gerade in meinem Hause seinen Anfang nahm, und es war meine einzige Genugthuung, daß dieses Haus Dir später eine Heimath bieten konnte. Ich hoffte, jetzt, wo Jahre dazwischen liegen, wo in Dir und um Dich nicht mehr als Alles sich geändert hat, würdest Du die einst empfangene Kränkung verschmerzt haben, und statt dessen muß ich sehen, daß sie unvermindert und unvergessen fortbrennt, daß alle alten Wunden wieder aufgerissen werden, daß Du –“

„Du irrst,“ unterbrach ihn die junge Frau hastig, „Du irrst gewiß. Ich – bin längst zu Ende mit der Vergangenheit.“

Erlau schüttelte ungläubig den Kopf. „Als ob Du es je zeigen würdest, wenn Du leidest! Ich weiß am besten, welch eine Verschlossenheit und Selbstbeherrschung unter diesen blonden Flechten steckt. Du hast mir oft mehr davon gezeigt, als Du vor Deinem zweiten Vater verantworten konntest, aber er sieht doch schärfer und tiefer als die Anderen, und ich sage Dir,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 555. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_555.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)