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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

So schloß der Tag der Erhebung meines Hundes, die auch bis an seinen Tod eine nachhaltige geblieben, indem der sonst so Harmlose – bei all’ seiner auch beibehaltenen Gutmüthigkeit – noch der leidenschaftlichste und geschickteste Saufänger geworden. Und so rechtfertigte das brave Thier doch noch den ersten Ausspruch des nun längst auf himmlischen Etat gesetzten alten Piqueurs: – „ein Capitalhund, ein Capitalhund“ – der er ja schließlich in jeder Beziehung war.




Schützenfestliche Charaktere und Typen.
Flüchtige Erinnerungen vom Eidgenössischen Freischießen in St. Gallen.


Es war am letzten Tage des eidgenössischen Schützenfestes zu St. Gallen. Ich saß nach beendetem Mittagsmahle in der Festhütte und hielt Siesta. Mein Tischnachbar, ein stämmiger Züricher, hatte mir fleißig zugetrunken, indem er, dem allgemeinen Zuge folgend, dem Festwein alle Ehre zukommen ließ. Begeisterte Hochs wollten kein Ende nehmen: die Weine, die auf den Altar des Vaterlandes niedergelegt wurden, fielen wie Tropfen auf heiße Steine, denn die Hitze war eine beunruhigende. Dazu kamen die geistigen Genüsse, einestheils im Anschauen des Festtroubles, anderntheils im Anhören der mitunter etwas langen Toaste und Vorträge der Musikcapelle – genug! meine fröhliche, weinselige Stimmung machte einer gewiß entschuldbaren Abgespanntheit Platz.

Mein Nachbar mußte mein verstecktes Gähnen bemerkt haben, denn er wandte sich zu mir mit den Worten: „Wenn es Ihnen angenehm ist, so machen wir einen Gang durch die Halle und ihre Anhängsel. Draußen ist die Luft nicht so drückend wie hier, wo die Temperatur die des menschlichen Blutes erreicht hat. Spazieren wir nach dem schattigen Schießstande, wo es recht einladend knallt! Dort werden Ihre Lebensgeister wach rumort.“

Ich war es zufrieden, und wir gingen nach der Schießhütte. Man gewöhnt sich bald an das ohrenbetäubende Knallen und zuckt nach einiger Zeit kaum mehr mit den Lidern, wenn ein Schuß fällt. Die Breite des langen Holzbaues wird durch eine Barriere in zwei Theile getrennt. Die den Scheiben zugekehrte Gangseite ist für die Schützen; es befinden sich dort die Schießstände, in welchen sich Büchsenmacher und Schützen tummeln. Die zweite Abtheilung ist der neugierigen Zuschauermenge eingeräumt, und hier schlenderte ich mit meinem Tischnachbar die Planken entlang.

„Beobachten wir die Schützen bei ihrer Arbeit!“ sagte mein Begleiter. „Sehen wir uns die schützenfestlichen Charaktere und Typen im Schießstande an – ich wette, daß es sich der Mühe verlohnt und uns manche originelle Gestalt begegnet. Sehen Sie jenen kleinen schmächtigen Burschen mit dem schwarzen Krauskopf?“

„Sie meinen in Nr. 722?“

„Ja, es stehen vier Schützen im Stande. Sie schießen der Reihe nach. Jetzt kommt der Kleine daran; er scheint ein Student zu sein, vielleicht ein Schüler des Polytechnikums. Paff! da kracht er los. Was traf er? Strecken wir die Hälse, wie es Alle thun, die uns umstehen. Ein Fehlschuß.“

Der Student legte seinen Stutzen auf den Brettertisch und machte einem andern Schützen Platz. Nach kurzer Zeit kam wieder die Reihe an ihn. Er schoß abermals fehl.

„Den jungen Mann ‚verließ das Glück‘, wie Max im Freischütz singt. Und doch besitzt er gegen siebenzig Nummern,“ sagte ich zu meinem Begleiter.

„Freilich,“ war die Antwort, „aber er brauchte dazu mehr als fünfhundert Schüsse, wie mir vorhin der Büchsenmacher mittheilte. Ist er fleißig, so kann er’s in weitern fünfhundert bis zu hundert Nummern bringen, dann erhält er einen silbernen Becher –“

„Im Werthe von fünfzig Gulden. Das ist ein theurer Becher.“

„Was thut’s? Der Papa hat Geld; dafür kommt der Name des Söhnleins in alle schweizer Blätter und Blättchen. Der Pokal wird ihn das Dreifache seines Werthes kosten, wenn nicht mehr. Beim ‚Becherverschwellen‘, wo der Becher meist mit Champagner zu seinem nassen Zwecke geweiht wird, rollen die Napoleons mit märchenhafter Eile davon. Doch gehen wir weiter, und wenden wir uns vom Anfänger zum ausgelernten Schützen. Halt, dort haben wir ihn! Standnummer 110! Ich meine jenes alte Männchen mit der verschnupften Physiognomie, dem kleinen Käppchen auf den noch schwarzen Haaren und dem grauen Lüstrerock mit Messingknöpfen. Es ist ein Schütze vom alten Schlage und aus jener Zeit, da noch der Standstutzen mit seinem haarscharfen Visire und Vergrößerungsglase florirte. Es ist gut, daß jene für praktische Bedürfnisse ganz unbrauchbare Waffe durch den zeitgemäßen Feldstutzen und das Infanteriegewehr ersetzt wurde. Das Männchen ist ein alter Standschütze und, der Sprache nach zu urtheilen, ein Appenzeller aus dem glaubenseinheitlichen Inner-Rhoden. Sehen Sie nur, wie er die vom Büchser gemiethete Waffe von allen Seiten betrachtet! Der Feldstutzen ist ihm eine ungewohnte Waffe, und er scheint ihr nicht recht zu trauen. Wie er ihn bedächtig auf dem linken Arme wiegt, um die Schwere zu prüfen! Und immer spielt jenes boshafte Lächeln um seinen Mund, als sagte er: ‚Wartet nur, Ihr jungen Herren! Ich will Euch zeigen, was Trumpf ist.‘ Er will beweisen, daß das alte Schützenwesen am Stande trotz seiner possenhaften Schießkunstgriffe nicht verdiente, einfach beseitigt zu werden.“

„Sehen Sie, er überläßt das Geschäft des Ladens nicht dem Büchsenmeister, sondern besorgt es selbst.“

„Weil er es für das Wichtigste hält,“ meinte mein Begleiter und schüttelte sich vor Lachen.

„Was murmelt er im Laden vor sich hin?“

„Alle Wetter! Er segnet die Kugel. Jetzt setzt er den Stutzen in die Schulter – er murmelt weiter – nun verstehe ich Einzelnes. … Ah, er betet ein Paternoster.“

„Ei, mir war schon ganz wolfschlüchtig zu Muthe. Kaspar ruft:

‚Schütze, der im Dunkeln wacht –
Samiel! – Samiel! – Hab’ Acht! –
Steh’ mir bei in dieser Nacht,
Bis der Zauber ist vollbracht! –
Salbe mir so Kraut, als Blei,
Segn’ es – sieben – neun und drei,
Daß die Kugel tüchtig sei!‘“

Der Alte hatte unterdessen das Gewehr angesetzt und beugte sich etwas nach vorn, das rechte Auge unbeweglich über das Visir nach dem Ziele gerichtet. Links und rechts knallten die Stutzen, aber das Männlein rührte sich nicht. Da krachte der Schuß – athemlose Pause. Er hat das Schwarze getroffen, aber am äußersten Rande. Der Büchsenmeister gratulirte ihm; er aber legt unzufrieden den Stutzen hin und verschwindet in der Menge.

„Guter Alter,“ sagte mein Begleiter, „Deine Zeit ist vorbei; aber sie ist schön gewesen. Drum gieb Dich zufrieden und freue Dich an der Kunst der Jungen, welche ohne die Standschützen jetzt kein solches Fest hätten und nicht so trefflich schießen könnten. Und nun zu einem modernen Meisterschützen!“

Als wir uns durch das Gedränge Bahn brechen wollten, kam uns ein Schütze in die Quere, der statt seiner Gewinnstnummern ein großes Plakat am Hute trug. Mein Mentor, der ihn zu kennen schien, hielt ihn an, und ich las folgendes Herzensplakat: „Dieser Schütze wünscht auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege noch vor Ende des Festes eine junge Lebensgefährtin zu finden. Schönheit und Tugend werden Reichthum vorgezogen (??). Anonymität unstatthaft. Discretion garantirt.“

Ich fragte den Heirathslustigen, ob er mit den Resultaten seines Herzens ebenso zufrieden sei, wie mit denjenigen seiner Schützenkunst. Letzteres beantworten der Spaßvogel, indem er auf ein großes Becherfutteral wies, das er unter dem Arme trug; zum ersten Punkte dagegen lachte er pfiffig, blinzelte schelmisch mit einem Auge und gab mir einen freundlichen Rippenstoß.

Ein Meisterschütze war bald gefunden. Wo viele Zuschauer sind, muß der Schütze gut sein, heißt die Regel. Unser Mann war ein baumhoher Aargauer, dem noch drei Schüsse zur hundertsten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 562. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_562.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)