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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Nummer fehlten. Wohlgemerkt: drei Schüsse, denn bei ihm ist Schuß und Nummer gleichbedeutend. Er hatte sich von den zwei Collegen, welche abwechselnd mit ihm in die gleiche Scheibe schossen, die Gefälligkeit erbeten, die noch fehlenden drei Nummern nach einander herauszuschießen, ohne abzusetzen. Wir kamen eben zu seinem Stand, wie er das Patronenlager seines Vetterli-Repetirers mit drei Patronen beschwerte. Dann faßte er den Hebel an, hob und senkte ihn flink, – die Feder war gespannt, die Waffe schußbereit.

„Das ist ein Scharfschütz’,“ raunte mir ein Knabe zu, „und der macht es, wie ’s im Exercir-Reglement steht.“

Der Aargauer näherte sich der Brüstung und warf einen flüchtigen Blick auf die Scheibe. Hierauf setzte er das Gewehr in die Schulter ein, nachdem er dasselbe durch kurzes stoßartiges Ausstrecken des linken Armes in horizontale Lage gebracht hatte. Dann senkte er den Kopf ungezwungen gegen den Kolben und richtete das Auge nach dem Ziele. Deutlich sah ich, wie er darauf den Abzug mit dem zweiten Gelenk des Zeigefingers berührte – die Mündung ruhig erhob, bis das Korn in die Visirlinie fiel – der Zeigefinger machte eine drehende, kaum bemerkbare Bewegung nach links und drückte ab – Paff! – Er blieb in derselben Stellung eine, zwei Secunden; das Auge unverwandt auf’s Ziel geheftet, schien den Lauf der Kugel zu verfolgen. Getroffen! Der Schuß stak tief im Schwarzen. Die Scheibe versank und machte der neuen Platz. Der Aargauer erfaßte den Hebel am Schloßblatt wieder – klipp, klapp – die leere Patronenhülse flog aus dem Magazin nach rückwärts, das Gewehr war geladen – paff! – entladen. – Im Schwarzen, Nummer Zwei! Klipp, klapp – paff! – Die letzte Nummer ist herausgeschossen, das Hundert voll, der Becher gewonnen!

Jetzt sah sich der glückliche Schütze von allen Seiten umringt, und Bekannte und Unbekannte beeilten sich, ihm mit derbem Handschlag zu gratuliren. Ein vielstimmiges „Hoch!“ ertönte. Der Büchsenmacher konnte sich vor Freude kaum fassen und schrie:

„Hoch der Canton Aargau! Das ist doch der flotteste Canton. Wären Sie nur früher gekommen, aber am letzten Tag, das ist nüt (nichts).“

Er versichert, in „lumpigen“ zwei Stunden habe sein Aargauer seinem Stande die Ehre angethan und hundert Nummern „useklöpft“ (herausgeknallt).

Unterdessen hatte sich die Zuschauermenge immer vergrößert, da faßte der Büchsenmeister den siegreichen Aargauer beim Arme und machte sich und ihm Bahn. Unter Jauchzern und Jodlern ging’s zum Gabentempel, und die Menge folgte den Beiden.

„Kommen Sie! Wie gehen auch zum Verschwellen,“ sagte mein Begleiter zu mir. „Sie lernen da das herrliche Schweizer Nationalfest von einer seiner volksthümlichsten Seiten kennen und sehen, ‚wie leicht sich’s leben läßt‘ in des Wortes eigenster Bedeutung.“

Der Zug war am Gabentempel angekommen und hatte vor der Freitreppe Halt gemacht. Der Bechergewinner erstieg diese, und der Pokal ward ihm von Comitémitgliedern überreicht, deren Präsident einen riesigen Becher in der Hand hielt. Der Aargauer ward beglückwünscht; die Pokale kreisten, und die Menge ließ den „glücklichen Schütz us em Aargäu“ hochleben.

Unterdessen hatte sich eine Musikbande eingefunden, welche eben beginnen wollte, die schweizerische Nationalhymne: „Rufst du, mein Vaterland“ – zu spielen, doch der durstige Büchsenmacher, dem die ganze Procedur des Becherholens im Vergleich zum Verschwellen viel zu lange dauerte, herrschte ein „Nüt da! ’s wird nüd blasen!“ Der Aargauer aber, gerade im Begriffe, sich seines Bechers durch fleißiges An-den-Mund-führen zu freuen, wurde von vier wuchtigen Fäusten ergriffen, und im Nu sah er sich hoch oben auf dem Sitz zweier Schultern. Wie er auf diese Weise allem Volke sichtbar wurde, donnerte ein lang anhaltender Beifallsjubel zu ihm empor, der erst durch die Klänge eines Marsches unterbrochen ward, den die Musikbande doch für gut fand zu intoniren. So ging’s zur Festhütte: die Musiker voraus, hinter ihnen der Aargauer auf luftigem Sitz, und dann einige fünfzig Männer, rottenweise einhermarschirend, die ich so naiv war, für sehr intime Freunde und Bekannte des Bechergewinners zu halten.

„Der glückliche Schütze kennt keine zehn Mann seines stattlichen Gefolges,“ belehrte mich mein Begleiter. „Aber Alle, Alle werden beim Verschwellen mittrinken, Alle! Sehen Sie,“ fuhr er fort, indem er auf einen kleinen Mann zeigte, welcher jauchzend dem Musikcorps voraustänzelte, „sehen Sie jenen Riesen Goliath, der so übermächtige Sprünge macht und dazu jodelt, daß es eine Freude ist?“

„Gewiß ein Verwandter oder wenigstens ein sehr guter Freund oder Schulcamerad des Verschwellers, denn das Männchen scheint am gewonnenen Becher mehr Freude zu empfinden, als sein Besitzer.“

„Weit gefehlt! Der Knirps sieht den glücklichen Treffer heute zum ersten Mal und kommt vielleicht sein Lebtag nimmer mit ihm zusammen. Es ist ein Parasit, – aber einer von den weniger gefährlichen.“

„Sie sprachen von Gefährlichkeit?“ fragte ich erstaunt und überzeugte mich von der Anwesenheit meiner Börse.

„Ja wohl, aber nicht wie Sie meinen. Er wird durch seinen Durst, dessen vollkommenste Stillung ihm gar nichts kosten soll, dafür sorgen, daß nicht nur die Silberlinge, sondern auch die Goldfüchse des Verschwellers rasenden Reißaus nehmen. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen vorerst zwei Parasiten untergeordneteren Ranges zeige. Jene zwei untersetzten Burschen, welche den Schützen auf ihren Schultern tragen, meine ich. Sie würden den Namen desselben nicht einmal wissen, wäre er nicht vorhin am Gabentempel ausgerufen worden. Sie machen sich ein Gewerbe aus dem enthusiastischen Ergreifen und Tragen der Verschweller; dafür dürfen sie nachher den Becher einweihen helfen. Ich habe übrigens Beide im Verdacht, Dienstmänner von Profession, aber in vorübergehendem Civil zu sein.“

„Jeder Arbeit ihren Lohn! Sie verdienen ihn, denn bei dieser Hitze einen solchen rhodischen Coloß zu tragen, der zudem eine Karlsbader- oder Bantingcur benöthigt, ist eine Herculesarbeit. Wie macht sich aber der Vortänzer nützlich, den wir vorhin beobachtet?“

„Durch Erweckung einer fröhlichen Stimmung beim Verschwellen. Er ist der privilegirte Witzbold. Freilich muthen Einen hier und da seine Scherze wie alte Bekannte an aus verschollenen Nummern der ‚Fliegenden Blätter‘ oder des ‚Postheiri‘, des Schweizer Kladderadatsch, aber sie finden dennoch ein sehr empfängliches Publicum. Auch passen auf viele seiner Witze die Epitheta von Schulrath Wantrup ‚Reinlich und zweifelsohne‘ unter keiner Bedingung, und sie sind daher blos für intimere Kreise berechnet. Zudem wollen böse Zungen behaupten, seine Späße kehrten stereotyp bei jeder Verschwellung wieder, so daß ein mehrfacher Bechergewinner das Vergnügen habe, dieselben Scherze mehrfach anzuhören. Sei dem wie ihm wolle, es ist Pflicht jedes Zuhörers, sie stets auf’s Neue nicht nur zu belächeln, sondern auch mit stürmischer Heiterkeit zu begleiten.“

„Und ein Gefährlicher im Superlativ?“ fragte ich.

„Ist jener stämmige junge Mann mit dem Knotenstocke. Nicht genug, daß er, ohne den Aargauer zu kennen, mit ihm Verschwellen geht, nein, er ruft auch noch seine eigenen und, wie es scheint, ungemein zahlreichen Freunde, die er in Sicht bekommt. Jeden, der seiner Einladung zum Mitverschwellen Folge leistet, ergreift er jubelnd am Arme. Sehen Sie, schon hat er ein volles Dutzend recrutirt, Bursche mit einem Heidendurste und einer merkwürdig weiten Kehle, und nun marschiren Alle in Reih’ und Glied auf. Wehe dem Sieger! Und doch kann man all’ diesen unverschämten, aber gutmüthigen und kreuzfidelen Parasiten nicht böse sein, denn

Es ist nur einmal all’ zwei Jahr,
Nur einmal Schützenfest.“

Unterdessen war der Zug in der Festhütte angekommen. Der Aargauer wurde auf den Tisch gesetzt. Schaarenweise eilten die Kellner mit vorschriftsmäßiger Serviette im Knopfloche hin und her, ab und zu. Ein Beifallssturm raste zur Begrüßung des Bechergewinners durch die geräumige Halle, und die Menge, welche bisher zechend an ihren Plätzen gesessen hatte, eilte über Tische und Bänke, um den Verschweller in der Nähe zu sehen. Ganze Körbe mit Flaschen wurden hergebracht. Jetzt ging die Becherverschwellung an, indem zu den schrillen Tönen der Kindermords-Mazurka aus „Troubadour“ Becher, Humpen und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 563. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_563.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)