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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

dem Ganzen den landschaftlichen und gesellschaftlichen Hintergrund Wetzlars lieh. Nicht die glückliche Bezähmung einer leidenschaftlichen Liebe wollte er schildern, sondern die vernichtende Gewalt eines zügellosen Triebes, welcher das Herz in Fesseln schlägt und einer weichen, aber edlen und reichbegabten Natur den Untergang bereitet; er wollte ein dichterisches Gebilde schaffen, aus dem durch Erregung von Schrecken und Mitleid die Mahnung zu maßvollem Handeln, zu männlicher Selbstbeschränkung zu uns spricht. So mußte denn der Ausgang der Dichtung ein wesentlich anderer sein, als der der Liebe Goethe’s zu Charlotten es war, und hier bot dem Dichter die Geschichte von Jerusalem’s Ende das willkommene Sujet zu einem ebenso geeigneten wie erschütternden Abschlusse des Romans. Unter den Einflüssen der Kestner’schen Mittheilung schrieb Goethe in größter Zurückgezogenheit den „Werther“ binnen etwa vier Wochen in einem Zuge.

Charakteristisch für unseren Poeten dürfte der Umstand sein, daß seine Werther-Dichtung nicht nur unter den Einflüssen und im Hinblick auf seine eigenen Herzensbeziehungen zu Charlotte Buff (seit dem Palmsonntag 1773 Kestner’s Frau) und den Selbstmord Jerusalem’s geschrieben, sondern daß noch ein drittes, bisher weniger beachtetes Moment zur Entstehung des Romans mitgewirkt hat. Dieses finden wir in der nahen Beziehung Goethe’s zu dem Hause des Kaufmanns Brentano in Frankfurt am Main. Letzterer lebte seit dem Januar 1774 mit seiner ihm soeben in Thalehrenbreitstein angetrauten jugendlichen Gemahlin, der schönen Maximiliane Euphrosyne de la Roche, in der genannten Stadt, und Goethe wurde sofort der erklärte Vertraute der ihm schon von früher her bekannten jungen Frau. „Die Max“, wie er seine Freundin nannte, war nicht glücklich. Die nüchterne, mit Käse- und Häringsgeruch untermischte Atmosphäre des Handelshauses war nicht die rechte Lebensluft für die zarte, ästhetisch angehauchte Frau. So erkannte denn unser Dichter, dessen allzu leicht bewegtes Herz der schönen und geistreichen Max gegenüber gewiß nicht geschwiegen, auf’s Neue, wie das Schicksal so oft dem Menschen das Glück vorenthält, zu dem er bestimmt scheint; rief ihm doch der Verkehr mit der Frau Brentano sein Verhältniß zu Charlotte Buff wieder lebhaft vor die Seele, und aus dieser Stimmung, welche zugleich beeinflußt war durch die oben erwähnte Wetzlarer Katastrophe des armen Jerusalem, wurde der lange in Goethe’s Seele lebende „Werther“ im Märzmonate desselben Jahres geboren.

Die Wetzlarer Vorgänge, welche die wunderbare Dichtung hervorriefen, bilden nicht nur den Anlaß zu derselben, sondern auch den größten Theil ihres thatsächlichen Inhalts. Werther’s Seelenkampf bis zu seiner Flucht hat Goethe an sich selbst erfahren, und alle in den späteren Briefen des Romans wiedergegebenen Empfindungen sind in dem tiefinnersten Gemüthe des Dichters entstanden. Mehr noch als die Menschen und Situationen der Dichtung, bei deren Zeichnung Goethe oft von der Wirklichkeit abgewichen, sind aber viele der dargestellten Zustände und Localitäten nach wahren Vorbildern entworfen, wie auch namentlich das in aristokratischen und bureaukratischen Vorurtheilen befangene gesellschaftliche Leben des damaligen Wetzlar sich im „Werther“ klar abspiegelt. – Die so meisterhaft wiedergegebenen landschaftlichen Bilder gleichen bis zur Portraitähnlichkeit der Gegend um die alte Reichsstadt. All die stillen Stätten, an denen Goethe den Werther schwärmen läßt, finden wir in und um Wetzlar wieder: der Garten auf einem Hügel, den der Dichter im ersten Wertherbriefe erwähnt, die Dörfer Atzbach und Garbenheim (Goethe’s Wahlheim), der Jagdhof in Volpertshausen und viele andere Plätze innerhalb und außerhalb der Stadt sind theilweise noch in dem damaligen Zustande erhalten.

Noch heute zeigt man durchreisenden Fremden in Wetzlar das Deutschherrenhaus, wo Lottens Vater und diese selbst gewohnt; durch ein weites Thor tritt man in einen breiten Hof; dem Eingange gegenüber erhebt sich ein hohes Gebäude, zu dem eine steinerne Treppe mit Eisengeländer hinaufführt; Lottens Zimmer in einem Hause links im Hofe ist in den sechsziger Jahren wieder so hergestellt worden, wie es vor hundert Jahren war: die hellgeblümten Gardinen, die große altmodische Kommode, das Arbeitstischchen, das kleine Spinett, Stickereien und Zeichnungen von Lottens Hand, ihre Ohrringe und Nadelbüchse, einige Schriftstücke aus ihrer Feder – welche Erinnerungen rufen diese Gegenstände, an sich theils so unbedeutend, im Geiste des Beschauers wach! Goethe im blauen Frack und der gelben Werther-Weste, Lotte, wie sie sich zum Balle in Volpertshausen schmückt, stehen leibhaftig vor unseren Augen, und mit ihnen die Tage unserer Großeltern, die selige Zeit sentimentaler Briefwechsel und poetischer Stammbücher.

In der Unterstadt, auf dem im Jahre 1859 mit dem Namen Schillerplatz belegten spitzwinkeligen Häuserdreieck, steht, dem ehemaligen Franziskanerkloster gegenüber, ein hohes, schmales Gebäude mit zwei durch drei Stockwerke hinaufführenden Erkern, enger Thür und schmalen Fenstern. Ernst und finster, wie das Geschick, das sich in diesem früher mit Fresco-Bildern geschmückten Hause vollzog, ist auch seine Außenseite. Im ersten Stock desselben erschoß sich Jerusalem.

Eine der interessantesten Erinnerungen an jene Zeit ist aber außer dem Goethe-Hause in der Gewandsgasse der Werther-Brunnen in der Felsengrotte vor dem Wildbacher Thore, von welchem diesem Artikel eine Abbildung beigegeben ist. Alt muß er sein; denn die zwei großen Steinköpfe (links ein Menschen-, rechts ein Löwenkopf), welche über dem Gewölbe, wo das Wasser sich aus drei Röhren ergießt, hervorragen, sind verwittert und moosbewachsen. Sie scheinen dem früheren Mittelalter anzugehören. Die Goethe’sche Beschreibung im dritten Briefe des „Werther“ paßt noch heute auf diesen Brunnen: „Ich weiß nicht,“ heißt es daselbst, „ob täuschende Geister um diese Gegend schweben, oder ob die warme himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir Alles rings umher so paradiesisch macht. Da ist gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein Brunnen, an den ich gebannt bin, wie Melusine mit ihren Schwestern. Du gehst einen kleinen Hügel hinunter und findest Dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo unten das klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer, die oben herum die Einfassung macht, die hohen Bäume, die den Platz rings umher bedecken, die Kühle des Ortes, das hat Alles so was Anzügliches, was Schauerliches. Es vergeht kein Tag, daß ich nicht eine Stunde da sitze. Da kommen denn die Mädchen aus der Stadt und holen Wasser, das harmloseste Geschäft und das nöthigste, das ehemals die Töchter der Könige selbst verrichteten. Wenn ich da sitze, so lebt die patriarchalische Idee so lebhaft um mich, wie sie alle, die Altväter, am Brunnen Bekanntschaft machen und freyen, und wie um die Brunnen und Quellen wohlthätige Geister schweben. O, der muß nie nach einer schweren Sommertagswanderung sich an des Brunnens Kühle gelabt haben, der das nicht mitempfinden kann.“ –

Die Begräbnißstätte Jerusalem’s ist nicht mehr aufzufinden; denn die Leiche des Unglücklichen wurde in einer Vertiefung in der Mitte des Friedhofs, der an einer Höhe liegt, beerdigt; zu Ende der siebenziger Jahre aber brachte man nach einem großen Brande eine Menge Schutt in diese Tiefe, wodurch die alten Grabhügel sämmtlich verschüttet wurde.

Verschüttet und vergessen – es wird die Zeit kommen, wo auch an die Werther-Dichtung das Schicksal herantreten wird, das über das Grab Jerusalem’s längst hereingebrochen ist. Wir beklagen es nicht; denn die Geschmacks- und Gefühlsrichtung dieses Jahrhunderts der That ist mit Recht eine wesentlich andere geworden, als die des vorigen es war, wo Empfindelei und Schwärmerei die Mannhaftigkeit und Tüchtigkeit des Charakters nur allzu oft untergruben. Und darum haben „Die Leiden des jungen Werther“, welche so recht der dichterische Ausdruck jener an Sentimentalität krankenden Tage unserer Altväter sind, für uns nicht mehr eine sociale und sittliche, oder gar eine socialrevolutionäre, sondern lediglich eine literar- und culturhistorische Bedeutung. Praktisch hat die heutige Zeit, gottlob, mit dem „Werther“ längst abgeschlossen.

Eine Würdigung dieser Dichtung von ästhetischen und ethischen Gesichtspunkten aus kann an diesem Platze nicht unsere Aufgabe sein. Goethe’s „Werther“ ist viel bewundert, aber auch viel angefeindet worden. Klärend und reinigend, wie ein Gewitter, brach dieser Roman in die schwüle und ungesunde geistige Atmosphäre der letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts hinein, aber ob er durch seine läuternde und mahnende Gewalt das Wohl der Menschheit mehr gefördert hat, als er durch seinen so vielfach mißverstandenen Inhalt das Geschlecht seiner Zeit beunruhigt und in falsche Bahnen geleitet – diese Frage wird, wie bei so vielen Geisteserzeugnissen von sittenreformatorischer Tendenz und excentrischem Gedankengehalte, eine wohl allzeit offene bleiben.




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