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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)


No. 38.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Gesprengte Fesseln.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


„Ich werde mir die Aufklärung schaffen,“ rief Reinhold aus. „Weiß ich doch, wo ich sie zu suchen habe. Geh’ Du voran zu Ella, Hugo! Ich komme nach – vielleicht schon mit dem Kinde.“

Der besonnenere Capitain ergriff rasch seinen Arm.

„Reinhold, ich bitte Dich, keine Uebereilung! Noch kennen wir die näheren Umstände nicht. Das Kind kann sich in der That verirrt und, da es kein Italienisch spricht, sich noch nicht wieder zurückgefunden haben. Vielleicht wird es jetzt schon der Mutter wieder zugeführt. Was willst Du thun?“

„Meinen Sohn zurückfordern,“ brach Reinhold mit furchtbarer Wildheit aus. „Das also war die Rache, die diese Furie sich ausgedacht hat. Ella und mich, uns Beide wollte sie mit einem einzigen tödtlichen Streich treffen, aber ich werde sie zu erreichen wissen. Laß’ mich, Hugo! Ich muß zu Beatricen.“

„Das nützt nichts,“ rief der Capitain, den der Ausdruck im Gesichte des Bruders erschreckte, und der sich vergeblich bemühte, ihn zurückzuhalten. „Wenn Dein Argwohn begründet ist, so wird sie ihre Rolle auch zu behaupten wissen. Du reizest sie nur noch mehr. Wir müssen andere Maßregeln ergreifen.“

Reinhold riß sich gewaltsam los. „Laß’ mich! Wenn irgend Einer, so erzwinge ich von ihr die Herausgabe meines Kindes, und erzwinge ich nichts – nun, so giebt es ein Unglück.“

Er stürmte fort. Die Wohnung Beatricens lag ziemlich weit von der seinigen entfernt; dennoch legte er den Weg dahin in kaum einer Viertelstunde zurück. Sonst bedurfte er hier keiner Anmeldung; vor ihm sprangen alle Thüren auf; war man doch gewohnt, ihn auch hier als Gebieter zu betrachten. Heute versicherte der Diener, welcher ihm öffnete, sehr entschieden, Signora sei für Niemand zu sprechen, auch für Signor Rinaldo nicht, sie sei heftig erkrankt und habe streng verboten –

Reinhold ließ den Mann nicht ausreden. Er stieß ihn bei Seite, eilte durch das Vorzimmer und riß die Thür nach dem Salon auf. Dieser war leer, ebenso das daneben liegende Boudoir; die Thüren der übrigen Gemächer standen weit offen – nirgends die Gesuchte, nirgends eine Spur von ihr; sie hatte augenscheinlich die Wohnung verlassen.

Reinhold sah, daß er bereits zu spät kam, und in dem vernichtenden Bewußtsein dieser Entdeckung fühlte er doch dunkel, daß die Flucht Beatricens ihm ein Verbrechen erspart habe. In seiner jetzigen Stimmung wäre er der Räuberin seines Kindes gegenüber zu Allem fähig gewesen. Sich mit Aufbietung all seiner Willenskraft zur Ruhe zwingend, kehrte er zu dem Diener zurück, der es nicht gewagt hatte, ihm zu folgen, und eingeschüchtert und ungewiß im Vorzimmer stand.

„Signora ist also fort. Seit wann?“

Der Diener zögerte mit der Antwort. Das Gesicht des Fragenden schien ihm nichts Gutes zu verheißen.

„Marco, Sie werden mir antworten! Sie sehen, daß ich mich nicht durch den Vorwand zurückhalten ließ, mit dem Sie mich auf Befehl Signora’s zu täuschen versuchten. Noch einmal, seit wann ist sie fort und wohin ist sie?“

Marco war augenscheinlich nicht in das Geheimniß eingeweiht, denn er war auf diese Frage durchaus nicht vorbereitet. Dagegen mochte er einen Theil der Scene belauscht haben, die gestern Abend zwischen seiner Herrin und Signor Rinaldo stattgefunden hatte, und erklärte sich damit den heutigen Auftritt in seiner Weise. Dem heftigen Charakter Beatricens sah es ganz ähnlich, daß sie jetzt auf einige Tage die Stadt verließ, wäre es auch nur, um dadurch die erneuten Aufführungen der Oper Rinaldo’s unmöglich zu machen, und daß dieser vor Zorn darüber außer sich gerieth, ließ sich leicht begreifen. Es war ja nicht das erste Zerwürfniß zwischen den Beiden, und alle Zwistigkeiten zwischen ihnen hatten bisher noch jedesmal mit einer Versöhnung geendigt. In der Voraussicht einer solchen Versöhnung war der Diener klug genug, es mit der doch stets herrschenden Partei nicht zu verderben, und so berichtete er denn, Signora habe bereits heute Morgen in aller Frühe die Wohnung mit dem gemessenen Befehle verlassen, sie jeder Nachfrage gegenüber für krank auszugeben. Sie sei in ihrem eigenen Wagen fortgefahren; weiter wisse auch er nichts.

„Und wohin fuhr sie?“ fragte Reinhold athemlos. „Haben Sie nicht gehört, welche Adresse dem Kutscher zugerufen wurde?“

„Ich glaube – die Wohnung des Maestro Gianelli.“

„Gianelli! Also auch der ist im Complot. Nun, vielleicht ist er noch zu erreichen. Marco, sobald Signora wieder eintrifft oder auch nur irgend eine Nachricht von ihr, melden Sie es mir sofort! Sofort! Ich wiege Ihnen jedes Wort mit Gold auf. Vergessen Sie das nicht!“

Mit diesem dem Diener wie im Fluge zugeworfenen Befehle eilte Reinhold fort. Marco sah ihm ganz bestürzt nach. Die heutige Scene spielte sich doch viel stürmischer ab als all die vorhergehenden bei ähnlichen Gelegenheiten, und die Aufregung Signor Rinaldo’s überstieg auch alles bisher Dagewesene. Was war denn nur vorgefallen? Der Maestro konnte Signora

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 603. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_603.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)