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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Biancona doch unmöglich entführt haben? Es sah wirklich beinahe so aus. –

In der Wohnung des Consul Erlau herrschte begreiflicher Weise die grenzenloseste Verwirrung und Aufregung. Capitain Almbach, der unverzüglich dorthin geeilt war, nahm sich zwar sofort mit größter Energie und Umsicht der noch im vollen Gange befindlichen Nachforschungen an, aber auch er vermochte nichts zu erreichen. Vorläufig stand nur die eine Thatsache fest, daß das Kind spurlos verschwunden war und blieb. Ob es freiwillig den Garten verlassen, ob es hinausgelockt worden war, darüber fehlte jede Vermuthung. Niemand hatte etwas ungewöhnliches bemerkt, Niemand den Kleinen vermißt bis zu dem Augenblicke, wo Annunziata zurückkehrte, um ihn zu holen. Die arme kleine Italienerin löste sich fast in Thränen auf, und doch war sie völlig unschuldig an dem Vorfalle, denn ihre junge Herrin selbst hatte sie in das Haus gerufen. Der Knabe war ja alt genug, um nicht einer unausgesetzten Aufsicht zu bedürfen, und er spielte oft genug allein in dem völlig abgeschlossenen Raume. Noch hatte Hugo es nicht gewagt, dem Verdachte Worte zu leihen, den er mit seinem Bruder theilte und der mit jeder Minute lebendiger in ihm wurde. Er hatte nur leise auf die Möglichkeit eines Raubes hingedeutet und war dabei dem vollsten Unglauben begegnet. Räuber in der Mitte der Stadt, im vornehmsten Theile derselben – unmöglich! Weit eher war ein Unglück anzunehmen. Man machte sich nochmals, trotz der hereinbrechenden Dunkelheit, an die Untersuchung der Nachbargärten und der sonstigen Umgebung.

Inzwischen bemühte sich Erlau vergeblich, seine Pflegetochter zu beruhigen und ihr all die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten auszumalen, die immer noch einen glücklichen Ausgang hoffen ließen; Ella hörte ihn nicht. Stumm und todtenblaß, ohne eine einzige Thräne zu vergießen, saß sie jetzt an seiner Seite, nachdem sie sich stundenlang an den fruchtlosen Nachforschungen betheiligt, sie zum Theile sogar selbst geleitet hatte. Obgleich Hugo ihr gegenüber mit keiner Silbe auf jene Möglichkeit hingedeutet hatte, nahmen die Gedanken der jungen Frau doch die gleiche Richtung, und je unerklärlicher das Verschwinden ihres Kindes blieb, desto unabweisbarer drängte sich auch ihr die Erinnerung an das gestrige Zusammentreffen auf, die Erinnerung an den wilden Haß und die glühende Rachedrohung Beatricens, und klar und immer klarer rang sich in ihr die Ahnung empor, daß es sich hier nicht um einen Zufall oder ein Unglück, daß es sich um ein Verbrechen handele.

Da kam ein Wagen im vollsten Jagen die Straße herauf und hielt vor dem Hause. Ella, die bei jedem Geräusche zusammenschreckte, in jedem Kommenden einen Boten sah, der Nachricht brachte, flog an das Fenster; sie sah ihren Gatten aussteigen und in das Haus treten. Wenige Minuten darauf stand er vor ihr.

„Reinhold, wo ist unser Kind?“

Es war ein Aufschrei der Todesangst und Verzweiflung, aber auch ein Vorwurf, wie er vernichtender nicht gedacht werden konnte. Von ihm verlangte sie das Kind zurück; trug er doch allein die wahre Schuld, daß es der Mutter entrissen wurde.

„Wo ist unser Kind?“ wiederholte sie mit einem vergeblichen Versuche, in seinem Gesichte die Antwort zu lesen.

„In den Händen Beatricens,“ entgegnete Reinhold fest. „Ich kam zu spät, es ihr zu entreißen; sie hat sich bereits mit ihrem Raube geflüchtet, aber die Spur wenigstens habe ich. Gianelli verrieth sie mir; der Schurke war Mitwisser, wenn er nicht gar Helfershelfer war, aber er sah wohl, daß es mir Ernst war mit der Drohung, ihn niederzustoßen, wenn er mir den Weg nicht nenne, den sie mit dem Kinde eingeschlagen. Sie sind in’s Gebirge geflohen in der Richtung nach A. hin. Ich folge ihnen sofort. Es ist kein Augenblick zu verlieren. Nur die Nachricht wollte ich Dir bringen, Ella. Leb’ wohl!“

Erlau, der erschreckt zugehört hatte, wollte jetzt mit Fragen und Rathschlägen dazwischen treten, aber Ella ließ ihm keine Zeit dazu. Die Gewißheit, so furchtbar sie war, gab ihr den ganzen Muth zurück; sie stand bereits an der Seite ihres Gatten.

„Reinhold, nimm mich mit!“ bat sie entschlossen.

Er machte eine abwehrende Bewegung. „Unmöglich, Eleonore! Das wird eine Jagd auf Leben und Tod und, wenn ich das Ziel erreiche, vielleicht noch ein Kampf auf Leben und Tod. Da ist kein Platz für Dich; das muß ich allein durchfechten. Entweder bringe ich Dir Deinen Sohn zurück, oder Du siehst mich zum letzten Male. Sei ruhig! Die Möglichkeit der Rettung liegt ja jetzt in den Händen des Vaters.“

„Und die Mutter soll inzwischen hier verzweifeln?“ fragte die junge Frau leidenschaftlich. „Nimm mich mit! Ich bin nicht schwach, Du weißt es – von mir hast Du keine Thränen und Ohnmachten zu fürchten, wo es Thaten gilt, und ich ertrage Alles, nur nicht die furchtbare Ungewißheit und Unthätigkeit, nur nicht das angstvolle Harren auf eine Nachricht, die tagelang ausbleiben kann. Ich begleite Dich.“

„Eleonore, um Gotteswillen!“ fiel Erlau entsetzt ein, „Welch eine Idee! Das würde Dir den Tod geben.“

Reinhold sah seine Frau einige Secunden lang schweigend an, als wolle er prüfen, wie weit ihre Kraft gehe.

„Kannst Du in zehn Minuten fertig sein?“ fragte er rasch. „Der Wagen wartet unten.“

„In der Hälfte dieser Zeit.“

Sie eilte in das Nebenzimmer; der Consul wollte nochmals verbieten, bitten, beschwören, aber Reinhold schnitt ihm das Wort ab.

„Lassen Sie sie gewähren, wie ich es thue!“ sagte er energisch. „Wir können jetzt nicht der kalten Ueberlegung Raum geben. – Ich sehe meinen Bruder nicht hier, und mir fehlt die Zeit, ihn aufzusuchen. Sagen Sie ihm, was geschehen ist, was ich entdeckt habe. Er soll hier unverzüglich die nöthigen Schritte thun, um uns die Hülfe zu sichern, die wir vielleicht brauchen, und uns dann folgen. Wir nehmen für’s erste den directen Weg nach A. Dort wird Hugo weitere Nachrichten von uns finden.“

Er wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, nach der Thür, wo Ella bereits in Hut und Mantel erschien. Die junge Frau warf sich mit einem kurzen, stürmischen Abschiedsgruße an die Brust ihres Pflegevaters, dessen Protest nicht gehört wurde, dann folgte sie ihrem Gatten. Erlau sah vom Fenster aus, wie Reinhold sie in den Wagen hob, ihr dann nachfolgte und den Schlag zuwarf, wie der Wagen mit Beiden im vollsten Galopp davonbrauste – das war zu viel für die noch immer angegriffenen Nerven des alten Herrn, zumal nach der Angst und Aufregung der letzten Stunden; fast betäubt sank er in einen Lehnstuhl.

Kaum zehn Minuten später trat Hugo ein; er hatte von einem der Diener bereits die plötzliche Ankunft seines Bruders und dessen ebenso plötzliche Abreise mit Ella erfahren; auf seine hastigen Fragen erst kam Erlau wieder etwas zu sich. Er war außer sich über den Entschluß seiner Pflegetochter, noch mehr aber über die Eigenmächtigkeit ihres Gatten, der sie so ohne Weiteres mit sich genommen hatte. Ankunft, Erklärung, Abreise, das Alles war ja wie im Sturmwinde geschehen; diese Handlungsweise glich einer förmlichen Entführung. Und was sollte die junge Frau auf einer solchen Reise? Was konnte da Alles vorfallen, was geschehen, wenn sie nun wirklich diese entsetzliche Italienerin erreichten? Der Consul war bei dem Gedanken an all die Möglichkeiten, denen sein Liebling ausgesetzt war, nahe daran, zu verzweifeln.

Hugo hörte schweigend den Bericht mit an, ohne besonderes Erstaunen oder Entsetzen zu verrathen. Er schien so etwas erwartet zu haben, und als Erlau geendigt hatte, legte er beschwichtigend die Hand auf dessen Arm und sagte ruhig, aber doch mit einem leichten Beben der Stimme:

„Lassen Sie es gut sein, Herr Consul! Die Eltern sind jetzt auf der Spur ihres Kindes; da werden sie hoffentlich den Kleinen finden und – sich auch.“




Die steilen Windungen der Bergstraße hinauf, die durch das Gebirge nach A. führte, bewegte sich ein Wagen. Er kam trotz der vier kräftigen Pferde und der ermunternden Zurufe des Führers nur langsam vorwärts. Es war hier eine der schlimmsten Stellen des ganzen Gebirges. Die Insassen des Wagens, ein Herr und eine Dame, waren ausgestiegen und hatten einen Fußpfad eingeschlagen, der den Weg fast um die Hälfte abkürzte, sie standen bereits oben auf der Höhe, während das Gefährt sich noch in ziemlicher Entfernung von derselben befand.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 604. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_604.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)