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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

genügend, um dem immer rascher eindringenden Schwall Einhalt zu gebieten. Unser Schicksal schien besiegelt. Das Fahrzeug unter unseren Füßen sank zusehends, und wir hatten nicht ein einziges Boot zu einem letzten Rettungsversuche übrig; nicht einmal ein Eisfeld, auf welches wir hätten flüchten können, war zu erblicken, als sich die Strahlen des Vollmondes kurze Zeit durch die schwarzen Wolken Bahn brachen. Nur wüste Trümmer schwammen in unserer Nähe, zu klein, um Zuflucht zu gewähren, und wären sie auch größer gewesen, so hätte dies wenig genützt, denn ohne Boote blieben sie uns unerreichbar.

Jetzt erfolgte ein zweiter Versuch, die Deckpumpen vermittelst siedenden Wassers in Gang zu bringen, was zu unserer Freude gelang. Es wurde mit beinahe übermenschlicher Anstrengung gearbeitet. Das Wasser floß in Strömen, gefror aber sofort, sobald es auf Deck gelangte, da die stark vereisten Seitenlöcher jeglichen Abzug nach außen verhinderten. Die Leute an den Pumpen standen bis zu den Knieen in dem kalten, schlüpfrigen Gemenge aus Seewasser und Eis. Allein wen kümmerte dies! Die Pumpen entfernten ebenso viel Wasser, wie durch das Leck eindrang, und wir halten Hoffnung, das Schiff noch kurze Zeit, wenn auch nur bis Tagesanbruch, zu erhalten. Da augenblicklich wenig Gefahr drohte, den Feuerraum überschwemmt zu sehen, galt es, den großen Kessel zu heizen, um mit seiner Hülfe dem Feinde zu begegnen. Um so rasch als möglich Dampf zu erhalten, zertrümmerten wir Thüren, hieben Theile der Takelage ab und Alles, nebst zwei Fässern Seehundsspeck, wanderte in den Maschinenraum, die Feuer zu nähren. Nach Verlauf einiger Stunden hatten wir die große Genugthuung, das rhythmische Klappern des Dampfwerks zu vernehmen und die Pumpen, ohne längern Verbrauch unserer eigenen Kräfte, in Gang zu sehen.

Vorerst waren wir gerettet, aber unser kleiner Kohlenvorrath mußte unter solchen Umständen in kurzer Zeit zu Ende sein. Die matte Mondscheibe trat schwach leuchtend hinter den rasch dahinjagenden Wolkenmassen hervor und ließ uns die dunkeln Umrisse der nahen Küste erblicken, deren Formen uns aber zu wenig Anhalt gaben, um den Punkt bestimmen zu können, an dem wir uns befanden. Der Sturm hatte aufgehört, und leise plätschernd und murmelnd machte das ruhiger gewordene Meer seinem rasch verrauschenden Unmuthe Luft. Wir legten uns abwechselnd nieder, um uns etwas Schlaf zu gönnen. Aber wie ganz anders war Alles, denn Tags zuvor! Neunzehn der Kojen standen leer, und Diejenigen, die noch am vergangenen Abend Ruhe in denselben gefunden, waren dem Doppeltode des Verhungerns und Erfrierens machtlos preisgegeben. Unter ihnen befanden sich zwei Frauen und ein Säugling von kaum drei Monaten. Unser kleines Häufchen an Bord des Wracks zählte, als die Musterrolle verlesen wurde, nur noch vierzehn Mann.

Ein trüber Polartag begann zu dämmern, und die Sonne stand noch tief unter dem Horizonte, als wir uns die letzten Reste eines unruhigen, wenig erquickenden Schlummers aus den Augen wischten und uns auf das Verdeck begaben. Nach und nach, als es etwas heller geworden, konnten wir uns einigermaßen orientiren, und die Karte zeigte, daß wir uns etwa vierzig Meilen nördlich von unserer letzten, mit Bestimmtheit festgelegten Position befanden. Mehrere stiegen in den Mastkorb, um sich nach unseren Gefährten umzuschauen, ohne indeß ihre Bemühungen von dem geringsten Erfolge begleitet zu sehen. Der erste Steuermann glaubte durch das Fernrohr auf einer treibenden Scholle dunkle Gegenstände wahrzunehmen, die er für Proviantsäcke hielt, allein die Ansichten hierüber waren getheilt. Da keine Hoffnung vorhanden war, die Vermißten aufzufinden, da wir nicht einmal vermuthen konnten, in welcher Richtung dieselben zu suchen seien, dachten wir zunächst an unsere eigene Sicherheit. Wir durchspähten die ganze eisumgürtete Küste, um eine Fahrstraße nach dem Lande zu entdecken, welches nicht mehr als etwa acht Meilen von uns entfernt war. Ein leichter Nordostwind brachte das uns umgebende Eis in Gang und öffnete einen schmalen Canal nach dem Ufer hin. Dieser Wendung des Schicksals verdankten wir unsere Rettung. Rasch wurden die Feuer mit frischen Kohlen beschickt, und das Schiff durch die beweglichen Packeismassen hindurchquälend, kamen wir der Küste allmählich näher. Es war ein schweres Stück Arbeit, denn manche große Scholle mußte aus dem Wege geräumt werden, und wir hatten kein einziges Boot zu Hülfe. Die dienstthuenden Matrosen sprangen auf kleine Eisstücke, die sie vermittelst eines Bootshakens von einer Stelle zur andern bewegten, und warfen auf den größeren Feldern Eisanker aus, an welchen das Schiff durch die engeren Passagen bugsirt wurde. Oft dauerte es eine Viertelstunde, ehe wir zehn Fuß Weges zurücklegen konnten, aber wir kamen vorwärts, und dieses langsame Vorwärtskommen war Sporn genug, unsere Hoffnung rege zu erhalten.

Wenige Minuten vor zwölf Uhr, als sich die Sonne zum letzten Male im Jahre 1873 über die Bergesgipfel im Süden erhob, hatten wir die Küste erreicht, und das Fahrzeug wurde auf Strand gesetzt – wir waren in Sicherheit. Sogleich machten wir uns an die Arbeit, die letzten Reste der Ladung zu löschen und das Wrack in Stücke zu hauen, welche uns als Baumaterial zu einer Hütte diesen sollten, deren Grund der Steuermann auch alsbald zu legen begann. Erst bei hereinbrechender Nacht stellten wir unsere Thätigkeit ein und suchten unsere Lagerstätten auf. Die Gefühle, die wir empfanden, lassen sich schwer in Worte fassen. Hätten wir den Rest unserer Gefährten in unserer Mitte gehabt, so wären wir völlig glücklich gewesen und hätten die schrecklichen Erlebnisse von gestern als bösen Traum betrachtet. So aber sagte uns die traurige Wirklichkeit nur zu deutlich, was geschehen war.

Am folgenden Morgen wurden wir durch den Besuch mehrerer Eskimos erfreut, die uns mit ihren Hundeschlitten behülflich waren, die Schiffstrümmer an’s Land zu bringen. Durch die Gefälligkeit dieser gutmüthigen Wilden wurde unsere Arbeit so erheblich gefördert, daß das Wohnhaus schon nach zwei Tagen fertig war und bezogen werden konnte. Aus dünnen Brettern aufgeführt und statt eines Daches mit altem Segeltuche überspannt, war dasselbe weit entfernt davon, einen wohnlichen Eindruck zu machen. Es war etwa dreißig Fuß lang und in zwei ungleich große Abtheilungen geschieden, wovon die eine, deren Thür unmittelbar in’s Freie führte, als Küche und zur Aufnahme von Proviant diente, während die andere Wohn-, Arbeits- und Schlafgemach in sich vereinigte. Um drei der Wände zogen sich in Doppelreihen vierzehn Kojen hin, während die vierte von der Thür durchsetzt war. Rechts von derselben befand sich ein rohes Gestell, zur Aufnahme unserer sehr defecten Küchen-Utensilien bestimmt, und in der linken Ecke stand mein kleines Schreibpult, auf dessen oberstem Fache die vier übrig gebliebenen Chronometer Platz fanden. Fenster anzubringen wurde als überflüssig betrachtet, denn wir hatten täglich nur noch wenige Stunden Dämmerung. Etwa hundert Schritte von der Hütte entfernt erbauten wir in der Nähe des Strandes ein kleines Observatorium, in welchem die stündlichen Beobachtungen so weit fortgesetzt wurden, wie es der mangelhafte Vorrath an Instrumenten gestattete.

Gegen Ende October war die Dämmerung bereits so schwach geworden, daß zur Mittagszeit Sterne von geringer Größe deutlich wahrgenommen werden konnten. Der Winter war über uns hereingebrochen, ehe wir es uns versahen. – Ein überwältigendes Gefühl beschleicht uns, wenn wir am Vorabende einer viermonatlichen Nacht stehen. Das Fremdartige der Situation wirkt drückend; wir fühlen tief in unserm Innern, daß wir nicht in diese Welt gehören, in die wir uns gewaltsam hineingedrängt, und deren starre, kolossale Großartigkeit mit einem anderen Maßstabe gemessen werden muß, als mit demjenigen, den wir gewohnt sind an gewöhnliche Verhältnisse anzulegen. Aber selbst noch jetzt versucht sie es, ihre düsteren Reize zu entfalten, diese dämonisch geheimnißvolle Welt, wenn der Winter die letzten kärglichen Schmucksachen von ihren stiefmütterlichen Brüsten hinweggerissen hat, wenn selbst die Sonne es verschmäht, diese starren Gebilde eines liebenden Blickes zu würdigen, und sich die Nacht finster und kalt auf sie herabsenkt, um monatelang eisig, undurchdringlich auf ihr zu lasten. Schließlich muß sie doch erliegen. Unwillig unterwirft sie sich dem Zwange der dunklen Herrscherin; schwächer und schwächer werden ihre Pulse, und

„Gleich dem todten Schlag der Pendeluhr,
Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere,
Die entgötterte Natur.“

Alles, Alles wendet sich von ihr ab. Das Meer hat der ersterbenden, kümmerlichen Pflanzenwelt noch ein letztes wehmüthig brausendes Schlummerlied gesungen und ist dann selbst entschlafen. Was zu fliehen vermochte, hat das Weite gesucht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 666. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_666.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)