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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Am Abend hatte es kaum fünf Uhr auf dem Rathhausthurme geschlagen, als unter dem Portale des Isarthor-Theaters schon eine ansehnliche Menschenmenge versammelt war und, unter den Säulen und bis weit herab über die Stufen stehend, sich das Warten nicht verdrießen ließ, obwohl der Märzwind ziemlich kalt von der Brücke herein blies. Es waren meist Leute aus den geringen Ständen: Lehrjungen und Gesellen, die auf dem letzten Platze und der oberen Galerie, „Juhe“ geheißen, sich eine Stelle zu erobern hofften; doch fehlten auch einige Bürger nicht, die es vorzogen, einen bessern Platz durch ein paar Stunden Zeit, statt durch Mehrausgabe eines Sechsers zu erkaufen – die Zeit war damals noch wohlfeil.

Allerlei Gespräch war und kam bald in Gang. Der Eine erzählte von dem Wunderkinde, das heute als Sängerin auftreten solle, und das der König selbst in Tegernsee entdeckt habe. Andere, durch einen Schusterbuben veranlaßt, der den „Jungfernkranz“ pfiff, unterhielten sich von der Pracht und Herrlichkeit der Oper „Der Freischütz“, die eben damals neu gegeben worden, und lachten darüber, wie bei der letzten Aufführung das Wildschwein in der Wolfsschlucht viel zu hoch hereingekommen sei, so daß man die Filztappen des Zimmermanns gesehen, der es getragen.

Die Thorflügel des Theaters öffneten sich endlich. Alles drängte sich, stolperte und fiel in die Halle. Es war noch geraume Zeit bis zum Beginne der Vorstellung, und schon war das Theater in allen Räumen überfüllt. Im Parterre wogten die Köpfe wie eine dunkle Saat durcheinander; von der Galerie herab summte es wie ein schwärmender Bienenstock; in den Logen war kein Platz mehr unbesetzt, und die hochgegürteten Damen der vornehmen Welt mit Turbanen, Baretten, Federschmuck und manch’ anderem hochgethürmtem Kopfputz wehten sich mit ihren Fächern Luft zu oder ließen ihre Brillanten im Wiederscheine des Kronleuchters glänzen. Dazwischen reihte sich mancher artige Mädchenkopf mit silbernem Ringelhäubchen, Mieder und Geschnür, der damals noch ausgezeichneten und mit Auszeichnung getragenen Tracht der Bürgerstöchter. Nur die in der Mitte des Zuschauerraumes gelegene Loge des Königs war leer; ein unerwarteter Besuch hoher Gäste hatte sein vorausgesagtes Erscheinen unmöglich gemacht. Vor dem Vorhange standen bereits zu beiden Seiten zwei Grenadiere mit den hohen Bärenmützen, den Silberlitzen auf der Brust und dem breiten Gürtel mit Beschlag um den Leib.

Der Vorhang mit Apollo und den Sonnenrossen begann bereits zu beben. Im Orchester hauchte die Oboe den Ton, nach welchem die Musiker leicht und rasch die Stimmung prüften, als Baron Worinoff in einer Loge des ersten Ranges neben einer schönen Dame Platz nahm, deren Haltung, sowie die Kostbarkeit ihres Anzuges und Schmuckes zeigten, daß sie hohen Rang mit Reichthum vereine. Sie drückte ihre Freude aus, den Baron wiederzusehen, da sie erst vor einigen Tagen von ihrem fernen Landsitze in die Stadt gekommen und nun zu ihrem Schrecken vernommen habe, daß er inzwischen in Lebensgefahr gewesen. Der Baron nahm eine geringschätzige Miene an und meinte, es verlohne sich nicht der Mühe, von solcher Kleinigkeit besonderes Aufsehen zu machen. Allerdings, erzählte er dann, sei es ihm bei einer Bergbesteigung begegnet, daß er auf dem Rückwege unter einem großen Baume sich auf einen abgehauenen Stamm niedergesetzt, um in der kühlen, mondhellen Nacht etwas auszuruhen, als plötzlich ein Schuß gefallen sei, der ihm den Hut vom Kopfe genommen, während die Kugel durch denselben tief in den Baum gedrungen sei. Die Dame entsetzte sich. Das sei „horrible“, meinte sie, indem sie die Federn ihres Hutes und den Fächer schwingen ließ.

„Der Mörder ist doch längst ermittelt und eingesteckt?“

„So viel mir bekannt,“ erwiderte Worinoff, „ist es noch nicht gelungen, seiner habhaft zu werden. Ohne Zweifel war es ein Bauernbursche, der mir an demselben Tage begegnet war, ein ehemaliger Soldat, der sich an mir rächen wollte, weil ihm in der Gefangenschaft in Rußland nicht Alles nach Wunsch gegangen war. Er ist seitdem flüchtig geworden, und es ist keine Spur von ihm aufzufinden.“

Die Dame fand das unbegreiflich. Was für Zustände! Welch’ ein Land, welche Gegend mußte es sein, wo dergleichen vorkommen konnte! Das erschien ihr geradezu „abominable“. Worinoff stimmte ihr bei, schilderte die Mühseligkeiten einer Bergwanderung, den Mangel jeder Bequemlichkeit, sowie die stete Gefahr irgend eines Unglücks. Die Gegend sei gänzlich unwegsam, und in den unzugänglichen Bergschluchten verbergen sich noch obendrein Wild- und Raubschützen, von denen Einer sogar den halbzahmen Lieblingshirsch des Königs erschossen, der daher auch auf Ermittelung des Thäters einen Preis von hundert Dukaten gesetzt habe.

„Und aus diesem Lande, von diesen Halbwilden,“ fragte die Dame, „stammt die Sängerin, die wir heute zu hören bekommen sollen? Wie hat sich ein solches Talent in diese Wildniß verirrt?“

„Nun, wie man es nimmt, Comtesse,“ entgegnete Worinoff etwas befangen. „Ich habe das Mädchen dort gesehen – gewiß, sie hat eine gute Stimme und eine eigenthümliche Art zu singen. Aber ich bin doch bange für sie; es fehlt ihr jede Fähigkeit zu feinerer Ausbildung. …“

Er hatte nicht Unrecht, wenn er so sprach. Corona hatte bei seinen anfangs häufigen Besuchen in Bälde und unverkennbar gezeigt, daß sie für die Ausbildung nach seinem Geschmack keinen Sinn habe. Er war dann ausgeblieben und erklärte sie für eine dumme Bauernmagd, die am besten thun würde, bei ihren Kühen und Melkkübeln zu bleiben.

Bald begann die Musik; nach wenigen einleitenden Tacten hob sich der Vorhang. Die Vorstellung nahm ihren Anfang und ging unter lebhafter Theilnahme und großer Heiterkeit der Versammlung ihren geregelten Gang. Jetzt zeigte sich die neue Berglandschaft mit dem fernen See und der Almhütte. Ein Geflüster flog durch das Haus; denn die Debütantin stand in ihrer heimischen Bauerntracht vor der Hütte und begann ihr Lied. Corona sang mit beklommenem Athem; aber sie sang ihr Lied gut zu Ende. Sie hatte sich vorgenommen, sich an gar nichts und an gar Niemand zu kehren und gerade so zu thun, als säße sie daheim vor ihrer Hütte auf der Gindelalm. Der athemlos lauschenden Stille folgte lebhafter Beifall; aber in denselben mischten sich deutlich jene bedenklichen Töne, mit welchen das Gegentheil des Beifalls ausgedrückt oder doch angedeutet werden soll, daß es noch zu früh sei, Beifall laut werden zu lassen. Die vielen Reden und Lobpreisungen, welche in der Stadt herumgegangen waren, hatten die Erwartungen übermäßig gespannt; man glaubte, einer Art Naturwunder zu begegnen und fand verstimmt ein hübsches Bauernmädchen, das eben sang, wie ein Bauernmädchen zu singen pflegt. Die nachgeahmten Vogelstimmen aber dünkten vollends Manchem wie eine Spielerei, die sich auf den Bergen zu der Cither recht gut ausnehmen mochte, die aber in einem Kunsttempel nicht am Platze war. So kam die Hauptscene herbei, und Corona betrat die Bühne, noch immer ruhigen Blutes; sie hatte das Zischen nicht gehört oder dessen Bedeutung nicht verstanden. Sie sprach ihre Rede ohne Störung und näherte sich dem Felsstücke, um den Rechen zu ergreifen – aber wie sie auch ihre Blicke anstrengte und umherschickte, der Rechen, das wichtige und so sehr eingeschärfte Requisit, war nirgends zu erblicken. Betroffen stand sie einen Augenblick; eine Pause trat ein und säuselndes Gelächter flog durch das Haus.

Da tauchte plötzlich hinter dem Felsstücke ein Hemdärmel und ein Arm empor und reichte ihr den Rechen. Sie griff danach, aber das Säuseln draußen steigerte sich zum Sturme. Corona stieg das Blut zu Gesicht und klopfte ihr in den Schläfen. Dennoch behielt sie Fassung genug, zu bemerken, daß der Augenblick herankam, in welchem der zweite und künstlichere Theil ihrer Aufgabe abermals mit Gesang beginnen sollte. Sie begann, auch, aber unsicher und schwankend; der Anblick des auf sie schauenden bewegten Publicums, der sie zuerst gleichgültig gelassen, begann nun auf sie zu wirken: sie verlor erst den Tact, setzte unrichtig ein, und dasselbe säuselnde Lachen der einmal entfesselten Heiterkeit klang ihr als Antwort entgegen. Da fühlte sie es noch glühender in sich auflodern – zum Entsetzen des Capellmeisters, der mit erhobenem Tactstocke wie versteinert dastand, brach sie mitten im Gesange ab und trat, den Arm in die Hüfte gestemmt, bis an die Lampen vor. Sie gedachte nicht mehr, wo sie stand; es muthete sie an, als sei sie zu einem Trutzgesange herausgefordert worden und müsse darauf antworten. Schallend und mit voller Stimme, als müsse sie das Echo der Berge wecken, sang sie auf die Zuschauer hinunter:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 705. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_705.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)