Seite:Die Gartenlaube (1874) 717.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)


7. Fidelio.

Nicht in Sevillas Gärten, wo die Düfte
Von Rosen und Jasmin den Sinn verwirren;
Du führst uns hin, wo nächt’ge Vögel schwirren,
In kalte moderfeuchte Kerkergrüfte.

Nicht süße Laute füllen hier die Lüfte,
Von Mädchenchören, die wie Tauben girren;
Von Gramesseufzern nur und Kettenklirren
Tönt dumpfer Widerhall durch diese Klüfte.

Doch welch ein Himmelsklang zerreißt die Nacht!
Ist’s Liebe? – Nein, das ist die Liebe nicht.
Die um das Schöne flattert, um das Neue.

Die ist’s, die Ernst aus eitlem Spiele macht,
Die sich aus Dornen bleiche Rosen bricht,
Die Dulderin, Erlöserin – die Treue.

8. Beethoven’s A-dur Symphonie.

Wo führst Du hin mich, wunderbarer Freund?
Du lockst mit holdem Schmeichellaut mein Sehnen;
Nein, ist es Wahrheit oder eitles Wähnen,
Daß mir das Ziel, mein Glück, schon nahe scheint?

Ha, böser Zaub’rer, war es so gemeint?
Zerschmelzen soll ich unter Deinen Tönen?
Seit Qualen kennt das Herz, das Auge Thränen,
Ward bitt’rer – nein, ach, süßer nie geweint.

Doch aus dem Thränenbade neu belebt,
Ein Jüngling, steigt der Geist, tritt kühn daher,
Umhüpft von leichter Scherze munt’rem Chore!

Was, leichter Scherz? – Jauchzt, daß die Erde bebt,
Es rase Lust und ein Bacchantenheer
Sprenge des Göttersaales eh’rne Thore!

9. Desselben achte Symphonie.

Welch’ bunter Drang, welch unruhvolles Streben –
Bald weiches Sehnen, bald verweg’ne Fragen –
Sind es Gedanken, welche sich verklagen?
Sind’s Völker, die sich für ihr Recht erheben?

Ja, uns’re Wünsche! – Das ist noch ein Leben!
Schau hin, wie sie, im Wirbeltanz getragen,
Mit schwerem Fuße bald den Boden schlagen,
Bald, leichte Genien, hoch im Aether schweben!

Nun aber fasse Dich, wach’ auf, mein Herz! –
Du willst nicht? Gut, wenn Dir das Spiel behagt,
Ich werd’ es Dir durch keinen Ernst vergällen.

Doch ist es Dir denn Ernst mit Deinem Scherz?
Du hast Dein tiefstes Leiden nicht geklagt –
Wie kann die Lust Dir aus der Tiefe quellen?

10. Mozart’s Symphonie in C.
(Mit der Schlußfuge.)

Auf, zu des Dasein’s Gipfeln kühn hinan!
Wozu in dumpfen Niederungen zagen?
Versuch’s, wie hoch Dich Deine Flügel tragen,
Mein Geist, und mache Dir durch Wolken Bahn!

Wie? hob mich zum Olymp ein luft’ger Kahn?
Welch’ gold’ne Lichter seh’ ich um mich tagen?
Und welch’ ein nie empfundenes Behagen
Dringt wie ein Aetherstrom auf mich heran?

Schon reißt ein sel’ger Uebermuth mich fort:
Hin tanz’ ich, unter Göttinnen gereiht,
Vom Festgesang des Musenchor’s begeistert.

Titanen seh’ ich in den Tiefen dort:
Dumpf murren sie und drohen neuen Streit;
Ein Wink von Zeus – und alles ist bemeistert.




Blätter und Blüthen.


Graphologie. Die Graphologie ist eine neue Narrheit, mit der man seit einiger Zeit in den Pariser Salons die Zeit todt schlägt. Nachdem die tanzenden Tische, die Klopfgeister und der spiritistische Unsinn die Neugierde erschöpft, kommt der graphologische Unsinn auf’s Tapet. Jean Hippolyte Michon, ein aus der Kutte gesprungener Geistlicher, ist der Gründer der Graphologie. Unter diesem Titel giebt er auch eine Zeitschrift heraus, und er hat bereits viele Jünger, welche den alleinseligmachenden graphologischen Glauben zu verbreiten suchen. Die Graphologie ist die Lehre, aus den Schriftzügen das Talent, den Charakter und das Temperament des Schreibenden zu erkennen. Das ist freilich nicht neu. Neu ist aber die Art und Weise der Anwendung dieser Lehre. Herr Michon sucht für dieselbe besonders in den Salons zahlreiche Proselyten zu gewinnen und wendet sich mit Vorliebe an die Frauen. Er richtet an jede die Bitte, ein paar Zeilen auf’s Papier zu werfen, und erklärt hierauf mit lauter Stimme die Schriftzüge.

Er beginnt ungefähr so: „Diese Handschrift zeugt von Charakterstärke, wie es sich besonders aus den Grundstrichen des L, des P und des T erweist; die Haarstriche des M und des N zeugen aber zugleich von einem sanften Nachgeben. Aus der Verschlingung des S und des T erkennt man die treue Anhänglichkeit und das Festhalten an dem einmal gefaßten Entschlusse. Sie haben,“ sagt er zu der Dame gewendet, „viel Formensinn und ein seltenes Kunstverständniß, wie es sich aus den Anfangsbuchstaben, zumal aus dem B, D und W, deutlich ergiebt. Sie sind bei aller Energie sanft und mild und bei aller Entschlossenheit sehr nachgiebig und duldsam. Ihre Handschrift, Madame, ist eine der merkwürdigsten, die mir je vor’s Gesicht gekommen.“

Die Dame zieht sich, wie man sich leicht denken kann, sehr befriedigt zurück, um einer Anderen Platz zu machen, welche Herr Michon nicht weniger zufrieden stellt. Herr Michon findet in jeder weiblichen Handschrift nur Geistes- und Herzensvorzüge. Ob er selber an seine Erklärungen glaubt, weiß Niemand; gewiß aber ist jeder Gatte erstaunt, daß Jener schon nach einem Augenblicke in den mehr oder minder orthographischen Zeilen seiner Gattin so viele Tugenden sieht, die er, der Gatte, nach vieljährigem Zusammenleben noch immer nicht entdeckt hat, und daß von ihren Fehlern, die er genau kennt, der genannte Grapholog auch nicht die allergeringste Spur findet. Was thut dies aber? Die Frauenwelt hält den Herrn Michon für einen Wundermann und ist von der Unfehlbarkeit seiner Kunst auf’s Festeste überzeugt. Zu bemerken ist noch, daß Herr Michon aus jeder Handschrift, in welcher Sprache sie sich auch ergehen möge, sei es die russische, arabische, hebräische oder koptische, mit gleicher Sicherheit wie aus der französischen auf den Charakter und die Begabungen des Schreibers zu schließen weiß; ja, er beurtheilt sogar den Charakter der Gelehrten nach der Art und Weise, wie sie die Keilschrift abschreiben.

Herr Michon beschränkt seinen Wirkungskreis nicht blos auf Paris. Er hält auch in den Provinzen und sogar im Auslande öffentliche graphologische Vorträge, die sich eines zahlreichen Publicums erfreuen. Nach jeder Vorlesung wird die Zuhörerschaft eingeladen, ein paar Zeilen auf’s Papier zu werfen. Die Papierschnitzel werden dann gesammelt und der Grapholog schildert hierauf aus den schnell hingekritzelten Schriftzügen die Charakterzüge. Zu den Experimenten, welche Herr Michon in seinen öffentlichen Vorträgen anstellt, gehört auch folgendes. Er läßt sich von dem ersten besten Elternpaare die Handschrift geben; unter dieselbe läßt er die Kinder dieser Eltern, und zwar mit dem ältesten die Reihe beginnend, einige Linien schreiben, und in diesen findet er sogleich auf das Unwiderleglichste die hervorragendsten Charakterzüge des Vaters und der Mutter.

Beurtheilt nun Herr Michon nach den Schriftzügen den Charakter des Schreibers, so weiß er auch sogleich, wenn er einen Menschen kennen lernt, welche Handschrift dieser nothwendig haben muß. Mit einem Worte: wie er den Menschen in der Handschrift erräth, so erräth er auch die Handschrift im Menschen. Man kann sich leicht denken, daß Herr Michon und seine Jünger von den Gläubigen oft um Rath gefragt werden. Diese Consultationen werden entweder schriftlich oder mündlich verlangt und ertheilt. Im erstern Falle wird das Honorar dem Briefe beigeschlossen; im letztern wird es dem Graphologen persönlich eingehändigt. Herr Michon veröffentlicht in seinem Blatte derartige schriftliche Consultationen, unter andern eine, die er einem Freier zu Theil werden ließ. Besagter Freier schickte ihm die Handschrift seiner Auserwählten und fragte ihn, ob er es wagen dürfte, dieselbe an den Altar zu führen. Herr Michon fand aus den Handschriften des Freiers und seiner Auserkorenen, daß das Paar für einander wie geschaffen sei. Ob die Partie in Folge der graphologischen Offenbarung zu Stande gekommen, weiß ich nicht zu sagen; ich weiß jedoch, daß ein Mann nach zurückgelegtem Schwabenalter sich vor zwei Jahren an einen andern Graphologen in einer Freierangelegenheit gewendet. Der Grapholog ließ es an Aufmunterungen nicht fehlen und der zweiundvierzigjährige Jüngling führte die Braut heim. Allein schon nach einigen Monaten fand er den Wahn sehr kurz und die Reue sehr lang. Er lebt seht getrennt von seiner Hälfte. Wahrscheinlich ist er nicht der Einzige, der seinen Glauben an die graphologische Unfehlbarkeit schwer büßte. Dies wird indessen Andere nicht abhalten, an diese Unfehlbarkeit zu glauben, bis eine neue Thorheit die Leichtgläubigkeit des Publicums anlockt.




Zur Charakteristik des nordamerikanischen Beamtenthums. Die Mehrzahl meiner Leser hat wohl schon aus öffentlichen Blättern oder vom Munde deutscher nach den Vereinigten Staaten verschiffender Exporteure Klagen über das amerikanische Zollsystem und dessen Anwendung durch die dazu bestellten Beamten vernommen. Die dabei mitgetheilten Thatsachen erscheinen dem deutschen Hörer übertrieben, entstellt oder ganz unglaublich, und dennoch dürfte der größte Theil derselben vollkommen wahr sein. Die dem amerikanischen Zollsysteme zu Grunde liegenden

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 717. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_717.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)