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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Er versuchte, der Widerstrebenden die Hände festzuhalten und sein Gesicht, das mit Ruß beschmiert war, damit es aussehe, als habe er einen Bart, an das ihrige zu drücken. Sie wehrte sich mit aller Kraft des Zornes; dennoch wäre sie erlegen, denn die Burschen zauderten ihr zu Hülfe zu kommen, wenn auch das Benehmen des Schneiders nicht ihren Beifall hatte. Plötzlich aber sprang ein Mann den Hag hinunter, packte Jessik und hatte ihn mit Einem Rucke von Corona weggerissen.

„Hanswurst, elender!“ schrie er. „Willst das Madl in Ruh’ lassen?“ Es war der rothbärtige Zillerthaler, der inzwischen mit seiner Handelschaft herumgegangen war und von Allem, was geschehen und gesprochen worden, nichts vernommen hatte. Corona war durch seine Hülfe augenblicklich frei; der Zieler aber ließ sich nicht so leicht abschrecken. Wie eine wilde Katze raffte er sich zusammen und sprang dem Helfer an die Kehle, indem er ihm zugleich, um ihn zu sich niederzuzerren, in das Haar fuhr; dasselbe wich der krallenden Hand, und vom Jubel und Rachegeschrei der ebenfalls herbeigeeilten Jäger begrüßt, erschien darunter Quirin’s kahle Stirn mit der mächtigen Narbe darüber.

Der nächste Augenblick sah ihn schon von seinen grimmigen Feinden umringt; trotz heftigen Widerstandes vermochte er sich der Ueberzahl nicht zu erwehren und ward zu Boden gerissen.

Auch Corona hatte ihn erkannt. Sie wollte hinzu, ihm den Beistand zu vergelten; aber Clarl hatte sie mit starker Hand gefaßt und schleppte sie hinweg. „Ist Dir’s noch nit genug?“ flüsterte sie ihr zu. „Willst noch mehr Schand’ und Spott auf Dich bringen?“ Von ferne sah die Widerstrebende noch zurück, sah ihn wegführen, sah, wie ihm über Stirn und Angesicht das Blut aus einer Wunde rieselte, die er im Geräufe davongetragen. Auch er schaute sich nach ihr um mit einem Blicke von Trauer und Vorwurf; dann waren sie einander aus dem Gesichte geschwunden.

„Was wollt Ihr von mir?“ fragte Quirin seine Gegner, während sie ihm die Arme auf den Rücken banden. „Warum fallt Ihr über mich her wie die Räuber?“

„Weil Du noch viel was Aergeres bist!“ schrieen die Jäger. „Willst Du’s etwa leugnen oder meinst Du, wir wissen nicht, daß Du der Gamstod bist?“

Ueberrascht sah er die Sprechenden einen Augenblick an. „Nein,“ sagte er dann kaltblütig; „wenn Ihr’s doch einmal wißt, dann leugn’ ich’s nicht; ich bin der Gamstod.“

Während sie ihn fortführten, spähte sein Blick noch einmal wie suchend in der Richtung, in welcher Corona dahingegangen, und ein Gefühl unsäglicher Bitterkeit stieg ihm im Herzen auf. Es war wahr – er hatte ihr das Blatt, das ihn verrieth, selbst gegeben; er hatte gewollt, daß sie davon Gebrauch machen solle: aber nun, da sie es, wie er glauben mußte, wirklich gethan, fiel es ihm dennoch wie ein stürzender Fels auf die Brust, daß ihm fast Pulsschlag und Athem stille stand.

Es war schon dunkel, als er sich im Gerichtshause untergebracht sah. Das Landgericht besaß damals keine peinliche Gerichtsbarkeit, die ohnehin höchst selten etwas zu thun hatte; das Gebäude war daher nur mit einem leichten Gefängnisse versehen, wie es zur Verwahrung geringerer Uebelthäter hinreichte; doch machten starke Eisengitter das Entrinnen zu einer immerhin nicht leichten Aufgabe.

Der Versammlung oben am Schießplatze hatte sich inzwischen ein förmlicher Freudentaumel bemächtigt, nicht nur, weil die Person des gefürchteten Wildschützen ermittelt und dieser unschädlich gemacht war, sondern noch mehr, weil es nun möglich war, dem guten König eine Freude zu machen und ihm zu zeigen, daß Niemand in dem Gebirge mit dem Wildschützen im Einverständnisse gewesen. Lebehochrufe erschollen; Trompeten und Hörner schmetterten, und Freudensalven krachten darein, bis der Mond über die Berge heraufblickte, als wollte er verwundert fragen, was der ungewohnte Lärm zu so später Stunde bedeute. An allen Tischen war kein anderes Gespräch und zugleich die Frage, wem nun der ausgeschriebene Preis gebühre, in Aller Munde. Der Jäger nahm ihn in Anspruch, weil er durch Auffinden der Kugel auf die erste Spur geholfen; Jessik aber begehrte ihn für sich, weil er es gewesen, der den Verbrecher festgehalten und ihm das Falschhaar vom Kopfe gerissen. Es war spät in der Nacht, als man mit schweren Köpfen, die unentschiedene Streitfrage in ihnen, nach Hause wandelte.

Allmählich war das Schweigen Herr geworden im Dorfe; nichts regte sich mehr als ein Haushahn, der, durch den frühen Lärm aufgestört, sich in der Zeit seines Morgenrufes irrte, oder hie und da ein vereinzelter Windstoß, der über den See her fuhr, daß die Bäume wie auffahrend rauschten und die schlaftrunkenen Wellen plätscherten. Nur in Quirin’s Gefängniß und vor demselben wollte es nicht gleich ruhig werden. Der Verhaftete fand keinen Schlaf; er stand am Gitter seines Fensters und sah in den klaren Mond empor, der so verständig herunterschaute, als nehme er Theil an dem Schicksal des Genossen, dem er so oft im Walde und auf den höchsten Felszinnen zugesehen und bei seinen nächtlichen Jagdfährten geleuchtet hatte. In Quirin’s Seele vermochte er diesmal nicht Einen lichten Funken zu werfen. Es war nicht die verlorene Freiheit und die Erinnerung an ihre kühnen Freuden, nicht der Gedanke an das traurige Loos, das ihm bevorstand und ihn wahrscheinlich in langwierigen Kerker vergrub; was ihn quälte, war der Gedanke an Corona; wie in alten Zeiten der Folterblock, der, wie der Gemarterte sich auch drehte, an allen Enden mit Stacheln und Spitzen versehen war, so quälte ihn dieser Gedanke. Als er von Corona schied und die Selbstanzeige gegeben hatte, mußte er darauf gefaßt sein, daß die Gerichte Alles aufbieten würden, ihn aufzufinden und sich seiner zu bemächtigen; trotz des Geständnisses hielt er sich aber für berechtigt, seine Freiheit gegen diese Maßregeln, so gut es nur anging, zu vertheidigen. Er hatte sich deshalb noch in derselben Nacht ebenfalls aus seinem Dienste und aus der Stadt entfernt und nach Tirol gezogen, wo man es in den einsamen Thälern mit den Fragen nach Stand, Namen und Herkunft nicht so genau nahm, und hatte sich leicht als tüchtiger Holzarbeiter das Bischen Unterhalt, dessen er bedurfte, verdient. Als es aber Frühling ward, als der Schnee zerging und auf den höchsten Gipfeln das Eis zu thauen und zu rücken begann, da litt es auch ihn nicht mehr; Sehnsucht und Neugierde ruhten nicht, ihm das Bild der Gindelalm vorzumalen mit der Sennhütte im Grünen und der Sennerin, die vor derselben saß. Das Bild wurde immer deutlicher; die Farben wurden immer brennender, bis er nicht mehr zu widerstehen vermochte und, alle Gefahren verachtend, sich auf den Weg begab.

Unterwegs in einem Dorfe, wo zur Osterzeit die Passion gespielt ward, gelang es ihm, sich den Rothbart zu verschaffen, in welchem der Judas gegeben wurde; so entstellt durfte er wohl hoffen, unerkannt und ungefährdet seine Reise machen und sein Ziel erreichen zu können. Schon war er in der Nähe der Grenze angekommen, als ihm ein Jäger begegnete, den er erkannte, und von dem er daher auch erkannt zu sein fürchtete; er glaubte also schon den Verdacht gegen sich geweckt und zog es vor, noch einen Umweg von einigen Monaten zu machen und seinen Besuch auf der Gindelalm bis zum Herbste zu verschieben. Bis dahin, hoffte er, werde der Argwohn, wenn ein solcher gegen den Zillerthaler Handschuhhändler wach geworden, wieder vergessen sein. So war er mitten am Tage des Schützenfestes eingetroffen und hatte vor, am anderen Morgen die Gindelalm zu ersteigen und Corona wiederzusehen, als ihn das plötzliche Begegnen mit derselben seine Rolle vergessen ließ, und er mit seiner Freiheit allen Hoffnungen und Entwürfen selbst ein rasches und klägliches Ende machte. Als das Schmerzlichste aber, was ihn dabei betroffen, drängte sich ihm immer wieder die Ueberzeugung auf, daß es doch eigentlich nur Corona war, durch welche er gefangen worden. Hätte sie nicht die Anzeige an das Gericht übergeben gehabt, so würden die Jäger nicht mit solcher Entschiedenheit auf ihn eingedrungen sein – das saß ihm im Herzen wie ein abgebrochener Pfeil.

Nun starrte er in die Nacht hinaus und auf den dunklen Hügel gegenüber, zwischen dessen nickende Büsche sich das Mondlicht hineinlegte, daß es manchmal den Anschein hatte, als sei es etwas Lebendiges, was durch dieselben husche. Er sah wieder und wieder hin, und immer deutlicher wurde, was er anfangs für Täuschung gehalten, ja, es wurde wirklich und lebend – eine Gestalt kam vorsichtig bald hinter dem Gesträuch hervor, bald verschwand sie wieder hinter demselben … Jetzt war sie so nahe, daß ein Zweifel nicht mehr möglich war. Es war eine weibliche Gestalt, die sich offenbar vorsichtig und auf Umwegen dem Gefängnisse näherte und zuletzt im Schatten der großen Linde, die vor demselben stand, verschwand. Jetzt hatte auch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 721. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_721.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)