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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

„Sie ist umgestürzt,“ fuhr der Knabe fort. „Ich sehe sie liegen. Sie streckt die Wurzeln empor.“

Bald gelangten sie an die Stelle, wo der stolze Baum gestanden, der in seinem Falle mehrere Büsche und kleine Bäume beschädigt, zum Theil schlimm zerschlagen hatte, wie unter den Menschen ein Großer, Hochgestellter bei seinem Sturze meist mehrere Kleine in seiner Nähe mit in das Verderben reißt. Der Boden, in welchem die Wurzeln der Tanne breit und tief sich erstreckt hatten, war aufgerissen, so daß sich eine Art seichter Grube gebildet hatte.

Der alte Förster trat bewegt an den Rand dieser Grube, die wie ein hastig aufgerissenes Grab aussah, und blickte mit leichtem Schauer hinein. Die Kinder sprangen in die Grube, traten an den gefallenen Baum, kletterten auf den glatten Stamm und zerrten an den umherstarrenden Wurzeln. Der Alte blickte noch immer schweigend in die Grube, als sehe er etwas darin.

„Großvater!“ rief plötzlich der Knabe, der von Neuem in die Grube gesprungen war und sich in derselben gebückt und etwas aufgehoben hatte. „Großvater, ein Degen!“

Der Alte zuckte zusammen.

„Ein Degen?“ antwortete er. „Ein Stück alten Eisens wird es sein. Greife es nicht an, Junge! Laß es liegen! Es ist eine schwere Sünde aus einem Grabe etwas zu nehmen, und die Grube da ist das Grab der Tanne.“

„Es sieht doch aus wie ein Degen,“ entgegnete der Knabe, indem er scheu das Eisenstück fallen ließ, das er in der Hand hielt. – Das Mädchen hatte unterdeß still an den Wurzeln des gefallenen Baumes gespielt und sich damit beschäftigt, mit den kleinen Fingern die Erde zu entfernen, die hier und da noch an denselben hing.

„Sieh, Großvater, was ich habe!“ rief sie nach einiger Zeit, indem sie auf etwas an einer Wurzel wies.

Der Alte war ganz mit seinen Gedanken beschäftigt und achtete nicht auf die Worte des Kindes, der Knabe aber trat alsbald neugierig zu der kleinen Schwester, um zu sehen, was sie dem Großvater zeigen wollte. Beide beschäftigten sich dann eine Zeitlang eifrig mit dem Gegenstande, der ihre Aufmerksamkeit fesselte. Der Knabe nahm sogar ein kleines Messer, das er in der Tasche trug, zu Hülfe. Er schabte und kratzte mit demselben an einer Stelle der Wurzel, die das Mädchen zuerst bezeichnet hatte. Nach einiger Zeit rief er in freudiger Verwunderung:

„Ein Ring! Großvater, komm her! An der Wurzel da hängt ein Ring, ein Ring mit einem Steine, wie ihn der Herr am Finger hat.“

Der Alte trat raschen Schrittes zu den Kindern, um das Wunder selbst zu betrachten.

„Nun ja,“ sagte er, „es sieht beinahe aus wie ein Ring, es ist aber keiner. Wie sollte ein Ring an die Wurzel da kommen?“

„Es ist ein Ring, Großvater,“ entgegnete der Knabe überzeugt, „ein goldener. Er glänzt da, wo ich ihn mit dem Messer geritzt habe.“

„Zu Hause wollen wir das Ding genauer untersuchen,“ entgegnete der Alte, der hastig ein starkes Einschlagemesser aus der Tasche nahm und anfing, die Wurzel, an welcher sich der Ring befinden sollte, zu durchschneiden. Eben als er die fingerdicke Wurzel über und unter dem angeblichen Ringe durchschnitten hatte, erklangen im Dorfe zum zweiten Male die Glockentöne.

„Kommt, Kinder!“ sprach alsbald der Förster, vielleicht nur um die Aufmerksamkeit der Kleinen von ihrem Funde abzulenken; „heute darf Niemand von uns in der Kirche fehlen.“

Als sie Alle nach Hause zurückgekommen waren, schloß der Alte das Gefundene geheimnißvoll in ein Wandschränkchen, und als die Kinder ihrem Vater von dem Ringe erzählen wollten, den sie gefunden, fiel der Alte erklärend ein:

„Es ist nichts, nur eine wunderlich gestaltete Wurzel, wie man sie ja gar oft findet.“

Und er trieb die Kinder an, sich zum Kirchgange bereit zu machen.

Sie gingen auch bald, aber kaum hatten sie sich aus dem Hause entfernt, so verließ der Alte in seiner Unruhe das Zimmer ebenfalls wieder. Er nahm Spaten und Schaufel und kehrte, ohne Jemandem zu sagen, was er beginnen wollte, zu der gefallenen Tanne zurück. Er ging mit ungewöhnlich raschen Schritten und sprach dabei leise vor sich hin:

„Es ist ein Degenstück, was der Junge sah, und es ist ein Ring, was das Mädchen fand. Wunderbar! Selbst das, was der Mensch tief in der Erde birgt, kommt einmal zu Tage. Die Wurzeln der Bäume sogar läßt Gott zu Händen werden, damit sie aus dem Schooße der Erde Verborgenes hervor an das Tageslicht fördern.“

Er ging eine kurze Zeitlang schweigend weiter, dann fuhr er in seinem Selbstgespräche fort:

„Ein Ring ist es. …. Vielleicht sein Ring. … Wie ist er an die Wurzel gekommen? … Ich kann die Grube nicht so offen liegen lassen. … Fremde könnten daher kommen … fremde Augen könnten darin noch Anderes finden.“

Er beschleunigte unwillkürlich seine Schritte noch mehr und sobald er die Stätte erreicht hatte, wo der gefallene Baum lag, begann er emsig und eifrig die Grube auszufüllen und zu ebnen. Er grub und schaufelte so hastig, daß ihm der Schweiß von der Stirn rann.

Als er in ängstlicher Aufregung die Arbeit beendet hatte, setzte er sich matt und ermüdet auf den Baumstamm und senkte das weiße Haupt. „Warum die Angst noch immer?“ sprach er vor sich hin. „Es war ja nur ein Unglück, ein unseliges. Wir Alle sind Schuldner; auch sie. Es war nur seine Schuld. … Aber wie ist der Ring an die Wurzel gekommen?“

„Er sann und grübelte, um das Räthsel sich selbst zu erklären. Nach einiger Zeit endlich murmelte er:

„Ja, ja! Nur so kann es gekommen sein. … Der Finger, an dem sich der Ring befand, zerfiel in Staub und der Ring lag dann frei in der Erde. Die Tanne, die ich an der Stelle gepflanzt, trieb ihre Wurzeln tiefer und tiefer in den Boden; eine Faser kam alsdann zufällig in die runde Höhlung des Ringes. Die anfangs dünne Faser wuchs und wuchs, wurde langsam stärker und dicker und endlich so dick, daß sie den Ring ganz ausfüllte und der selber zuletzt ganz fest in ihr saß. Als dann der Sturm kam und den Baum fällte, riß er im Falle die Wurzeln mit heraus, auch jene, welche den Ring an sich trug. … Eine Fügung Gottes war es, daß das Kind im Spiele die verrätherische Wurzel fand. Ja, wunderbar sind Gottes Wege.“

Wieder saß er eine Zeitlang schweigend da und in den Zügen seines Gesichtes konnte man deutlich erkennen, welch schmerzlich-traurige Gedanken ihn beschäftigten. Erst als zum dritten Male Glockengeläute von dem Dorfkirchthurme her durch den stillen Morgen bis zu ihm in den Wald hinüberklang, stand er rasch auf, als würde er plötzlich geweckt. Ehe er sich aber von der Stelle entfernte, nahm er nochmals seine Mütze ab, faltete die Hände und betete still. Darauf überblickte er noch einmal musternd die Stätte, an welcher die Tanne gestanden und die er sorgsam geebnet hatte. Dann erst trat er, einigermaßen beruhigt, seinen Rückweg nach Hause an, um ebenfalls in die Kirche zu gehen, denn um keinen Preis würde er an diesem Tage den Gottesdienst versäumt haben. –

Nachmittags saßen Vater und Sohn im Zimmer beisammen.

„Vater, Du erwähntest heute früh,“ sagte der Sohn, „daß Du die Tanne, die vom Sturme niedergeworfen worden ist, in der schrecklichsten Nacht Deines Lebens gepflanzt hättest. Hängt es mit den traurigen Vorgängen vor fünfzig Jahres zusammen, von welchen der Pfarrer heute in der Kirche so ergreifend sprach? Warum hast Du mir niemals Mittheilungen darüber gemacht?“

„Oftmals,“ antwortete der Alte nach einem tiefen Seufzer, „habe ich mir vorgenommen, Dir Einiges und, wenn ich es vermöchte, alles hierauf Bezügliche zu erzählen, aber nie konnte ich es über mich gewinnen. Immer war es mir, als verschließe eine geheimnißvolle Macht mir den Mund. Jetzt endlich, da wir den fünfzigsten Jahrestag mit einem feierlichen Dankgottesdienste begangen haben, jetzt, da durch Gottes Schickung der Schleier von dem Geheimnisse wunderbar gehoben worden ist, will und kann ich nicht länger schweigen. Ich stehe ja auch am Rande des Grabes, und es ist mir nur noch kurze Frist gegeben; auch andere Gründe noch machen es mir zur Pflicht, Dir unsere Vergangenheit zu enthüllen, die Dir fast ganz unbekannt geblieben ist. Du wirst Dinge erfahren, von denen Du keine Ahnung hast. Merke also wohl auf! Freudiges ist es nicht, was ich Dir zu berichten habe.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 736. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_736.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)