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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

übrigen Classen des Gemeinwesens angehörenden Altersgenossen in den öffentlichen Schulen einzunehmen.

Das Emigrationsdepartement der Gesellschaft wird in seiner Thätigkeit und seinen Erfolgen gleichfalls am besten durch Zahlen illustrirt. Der erste Export von Knaben nach dem Westen fand 1854 statt. Er umfaßte zweihundertvier Köpfe. Diese Zahl war bis zum Schlusse des vorigen Verwaltungsjahres auf zweiunddreißigtausenddreihundertachtundsiebzig angewachsen. Die Gesellschaft hält eigene Agenten, welche beständig in den westlichen Staaten umherreisen, Unterkunft und oft auch Annahme an Kindesstatt bei vertrauenswürdigen Farmern und sonstigen Landbewohnern für ihre jungen New-Yorker Freunde vermitteln und so eine regelmäßige Verpflanzung jugendlicher Kraft aus dem Staube und dem Schmutze großstädtischer Noth in die gesunde Sphäre ländlichen Lebens und ländlicher Thätigkeit bewerkstelligen, welche für Alle, denen sie zu gute kommt, gleich heilsam ist.

Die Gesellschaft bringt ihre kleine Auswanderung nicht allein durch ihre Agenten unter, sondern rüstet sie auch mit allem Erforderlichen aus und liefert sie an den Ort ihrer Bestimmung ab. Der Zudrang der Knaben, welche aus freien Stücken eine Versorgung durch diese Vermittelung nachsuchen, ist ein mit jedem Jahr zunehmender, wie andererseits die Wirksamkeit derselben auch außerhalb New-Yorks bereits eine so bekannte ist, daß die Nachfrage nach auswanderungslustigen Knaben mit dem Angebote so ziemlich gleichen Schritt hält. Herr Brace weist in seinem letzten Jahresberichte mit besonderem Stolze auf dieses Resultat hin und zieht den nachstehenden Vergleich zwischen den drei Hauptzweigen der Gesellschaft:

„Unsere Industrie- und Abendschulen machen einer Classe von Kindern, die sonst davon ausgeschlossen bleiben müßten, die Erlangung einer Menge von Kenntnissen und Fertigkeiten zugänglich; sie versorgen sie mit einer einfachen Mittagsmahlzeit, mit Kleidern und Schuhen und tragen für ihre Besucher auch Sorge, wenn sie krank werden. Die Logirhäuser bieten die Wohlthat von Unterkunft, Sauberkeit, Nahrung, Unterricht und heilsamer Disciplin, ohne dieselbe als Wohlthat fühlbar zu machen. Unser Auswanderungs-Departement aber umfaßt nicht nur die Ertheilung von Unterricht, Unterkunft, Nahrung, Kleidung und Disciplin, es ist nicht nur ein moralisches und sociales Palliativmittel – sondern es ist absolute Heilung, ist Radicalcur, ist Wiedergeburt aus Elend und Laster zur Tugend, zur Freiheit und zum Glück.“

Herr Brace ist allerdings ein Enthusiast. Aber hinter seinem Enthusiasmus stehen seine Zahlen, und diese sprechen die nüchterne Sprache der Welt. Sie geben uns ein Bild, das unsere Achtung, unsere Theilnahme und unsere Bewunderung erzwingt, und an dem wir nicht gut mäkeln können, wenn wir nicht selbst kalt und empfindungslos erscheinen wollen. Es ist Humanität in weisester Gestalt, ist Wohlthätigkeit ohne Sentimentalität sowohl, wie ohne sociale, politische und pietistische Nebenzwecke. Um ihnen ganz gerecht zu werden, müßte man freilich all das Unheil, die Verderbtheit und das Verbrechen, welche durch sie im Keime erstickt werden, prophetischen Blickes abschätzen und ihnen gutschreiben können. Aber es bedarf dessen nicht. Man greife in seiner Bewunderung nur getrost etwas hoch – zu hoch wird man so leicht ein Verdienst nicht schätzen können, welches durch heute gespendete Wohlthaten für die Reinigung, Veredelung und Sicherstellung der Zukunft in einer Weise sorgt, wie dies durch die „Children’s Aid Society“ von New-York innerhalb ihres Wirkungskreises seit mehr als zwanzig Jahren geschehen ist und, wie zu hoffen steht, in stets wachsendem Maßstabe auch weiter geschehen wird.




Pariser Bilder und Geschichten.


Unterhaltungen mit Heinrich Heine.


Von Ludwig Kalisch.


Heine gehörte zu den wenigen Schriftstellern, die während ihrer ganzen Laufbahn das Interesse des Publicums wach halten, mit deren Persönlichkeit die allgemeine Neugierde sich beschäftigt. Kein Literat konnte von einem Ausfluge nach Paris in’s deutsche Vaterland zurückkehren, ohne von allen Seiten gefragt zu werden, ob er dort Heine gesehen. Daher kam es auch, daß kein Literat in Paris anlangte, ohne ihn sogleich aufzusuchen, einige Witzworte von ihm aufzuschnappen und sie schwarz auf weiß nach Hause zu tragen. Heine war ein stehender Artikel in jedem Buch über Paris, besonders seit ihn ein grausam schleichendes Siechthum auf’s Lager geworfen. Der kranke Dichter mußte den Stoff zu einem mehr oder minder langen Capitel liefern, in welchem er mit dem ängstlichsten Detail abconterfeit wurde. Als ich nun im Jahre 1849 nach Paris kam, beschloß ich eine Ausnahme von den fahrenden Schriftstellern zu machen und den kranken Dichter, dem ich kein Heilmittel bieten konnte, nicht zu stören. Ich würde auch gewiß bei meinem Entschlusse beharrt sein, wenn ich nicht bald sein Nachbar in der Rue d’Amsterdam geworden wäre. Er wünschte meinen Besuch, und so begab ich mich in Begleitung eines uns Beiden befreundeten Schriftstellers an einem nebligen Novemberabend in Heine’s Wohnung. Heine lag in einem sehr kleinen Zimmer und klagte sogleich bei unserm Eintreten, daß er vorige Nacht wieder von den fürchterlichsten Schmerzen heimgesucht worden, und daß er nur durch starke Opiatdosen sich einige Linderung seiner Qualen verschaffen könnte.

Er wurde indessen nach und nach sehr gesprächig und munter, ließ seiner Satire den Zügel schießen und zeigte, daß in seinem fast aufgelösten Körper der Geist sich noch frisch und regsam erhalten. Seine Lebenskraft hatte sich so zu sagen in sein Gehirn geflüchtet. Sein arbeitender Kopf saß auf einem todten Rumpfe.

Deutschland war natürlich das Hauptthema unsers Gesprächs, und indem wir von den Zuständen in unserm Vaterland sprachen, kamen wir auf Venedey’s Ausweisung, von der damals in den Zeitungen viel geredet wurde. „Der gute Venedey!“ sagte Heine. „Er ist eine Art Maßmann, nur daß er noch weniger Latein weiß, als dieser.“

Als ich ihn fragte, warum er so oft seine satirische Lauge über Maßmann ausgieße, erwiderte er: „Du lieber Gott! Ich bin ein alter Mann; ich kann mir nicht mehr neue Narren anschaffen. Ich muß von den alten leben. Maßmann ist für mich rentabler Narr. Er ist meine Rente. Was kann ich dafür?“

Bald lenkte sich das Gespräch auf die moderne deutsche Poesie und auf die Vertreter derselben. Bei dem Namen Lenau’s wurde einer Reihe deutscher Dichter erwähnt, die im Wahnsinn endeten, oder im Elend untergingen. Als bei dieser Gelegenheit des armen Grabbe gedacht wurde, bemerkte Heine, daß er über diesen Dichter merkwürdige Aufschlüsse hätte geben können. „Ich habe ihn in Berlin kennen gelernt, wo wir beide studirten,“ sagte er. „Es war in ihm ein seltsames Gemisch von Demuth und unbezwinglichem Poetendünkel. Er hielt mich für sehr reich, weil ich damals – ich weiß nicht durch welchen Zufall – einen schönen Mantel besaß, und er behauptete, daß ich, von diesem Mantel behaglich durchwärmt, südlich glühende Lieder bequem dichten könnte, während er, in einem fadenscheinigen lebensmüden Rocke dem unverschämten Berliner Wind ausgesetzt, seine dramatischen Stoffe aus dem fernen Norden holen müßte. Er hatte gerade den ‚Herzog Gothland‘ vollendet und brachte mir ihn, um mein Urtheil darüber zu hören. Bei der Lectüre dieser absonderlichen Hervorbringung war mir’s, als ob mir ein Dutzend Mühlräder im Kopfe klapperte. Ich gönnte mir den Eindruck, den dieses dramatische Erzeugniß auf mich hervorgebracht, nicht allein, sondern gab es einem meiner Freunde, der mir’s, aus Angst verrückt zu werden, bald wieder zurückbrachte. Ich ging dann damit zu Varnhagen, der, wie man sich leicht denken kann, es noch weniger erquicklich fand und mich um Gotteswillen bat, es ihm schnell wieder abzunehmen; es mache ihm das ganze Haus toll. – Ja, dieser Grabbe war ein drolliger Mensch, aber ein bedeutendes Talent und ich hätte, wie gesagt, manche sehr interessante Aufschlüsse über ihn geben können; aber wie manches Andere wird auch dies mit mir begraben werden.“

Das Gespräch kam sodann auf die Dorfgeschichtenliteratur.

„Ich kenne sehr wenig davon,“ sagte Heine. „Ich kenne

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 745. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_745.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)