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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Wundern, die auf demselben geschehen. Der fehlende Name wird dann in der Regel durch Traum oder Offenbarungen kund gemacht. Nun könnte ein naiver, junger Mann glauben, der Reliquien-Fabrikant müsse in größter Angst und Sorge sein, wie sein Präparat die Probe bestehen werde. Nicht doch, diese Sorge darf er getrost dem Käufer überlassen. Die Wundersucht der Menge ist, wie sie im Mittelalter war, auch noch heute so groß, daß der betrügerische Fabrikant eher glauben könne, er sei behext, als daß seine Reliquien jemals fehlschlagen könnten. Der heute vergessene heilige Paris in Paris hat seiner Zeit zum starren Schrecken der Jesuiten mehr Wunder gethan, als der Erzmärtyrer Stephan, obwohl dessen Gebeine ihrer Zeit das Denkbarste leisteten und auf der Insel Minorca mehrere hundert Juden freiwillig bekehrten, nachdem man ihre Synagoge verbrannt und sie zwischen Exil und Bekehrung wählen gelassen. Man denke doch an das Wasser von Lourdes, an die Wunder des heiligen Rocks zu Trier und seines Doppelgängers zu Argenteuil. Die heilige Louise von Lateau thut alle Freitage Wunder. Auch der heilige Hohenlohe that sie schon bei Lebzeiten.

Der Cardinal von Retz sah in Saragossa einen zweibeinigen Menschen, den alle Leute der Stadt vorher als einbeinig gekannt hatten und dem der Stumpf durch Einreibung mit Reliquienöl wieder nachgewachsen war. Mehr kann kein Mensch von einer Reliquie und daraus geflossenem Knochenöl verlangen, aber merkwürdig – der Cardinal von Retz, obgleich er den Mann sah und die Domherren seine Identität mit dem ehemaligen Einbein versicherten, scheint nicht an das Wunder geglaubt zu haben. Wir werden also nicht nöthig haben mehr zu thun als er.

Was mich betrifft, so glaube ich, daß der feste Glaube an Reliquien mitunter Krankheiten, nicht allein Nervenübel, sondern auch dem geistigen Processe entfernter stehende Unordnungen im Organismus beseitigt haben kann. Ein fester Glaube an Sympathiemittel, ärztliche Verordnungen etc. thut nicht selten ähnliche Wunder. Der italienische Philosoph Pomponatius, welcher am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts lebte, hat sehr richtig gesagt, daß die Knochen eines Hundes die Heilung eines Kranken ebenso gewiß hervorbringen würden, wie Märtyrer-Gebeine, wenn Jener das gleiche Vertrauen auf ihre Wirksamkeit hätte. Die geistige Umstimmung ist es, welche die Wirkung hervorbringt, nicht, wie die Kirche, welche das Vorhandensein heilender falscher Reliquien nicht leugnet, sagt, die Belohnung Gottes für den (Aber-)Glauben. Der Vater des englischen Ministerpräsidenten, I. Disraeli, erzählt einen prächtigen Beleg für diese Behauptung.

Als die Reformation sich in Lithauen ausbreitete, reiste der Fürst Radziwil, ein entschiedener Gegner derselben, nur darum nach Rom, um dem Papste seine Ergebenheit zu beweisen, und erhielt zum Danke eine Büchse kostbarer Reliquien von seiner Heiligkeit. Sobald die Letzteren in der Heimathskirche niedergelegt waren, ersuchten einige Mönche den Fürsten, die Wirksamkeit an einer Besessenen erproben zu dürfen, deren Krankheit bisher allen Beschwörungen getrotzt hatte. Man brachte die Besessene unter großem Volkszulauf nach der Kirche, versuchte noch einmal und wiederum vergebens, die üblichen kirchlichen Beschwörungsformeln, dann brachte man die Reliquien in Anwendung und sofort wich der Dämon. Dem Fürsten, welcher, als die Menge einmal über das andere Mal Wunder schrie, sich sehr in seinem Glauben gestärkt und glücklich fühlte, war dessenungeachtet nicht entgangen, daß der junge Edelmann, dem er seinen Schatz unterwegs anvertraut, während der heiligen Handlung gelächelt und mit dem Kopfe geschüttelt hatte. Darüber erzürnt, nahm er den jungen Mann bei Seite, um zu fragen, was er mit diesen Mienen habe ausdrücken wollen, und dieser, nachdem er um Verzeihung auch für das noch zu Erzählende gebeten, beichtete Folgendes: Er habe unterwegs die Reliquienbüchse verloren und, nicht wagend, den Verlust zuzugestehen, eine ähnliche anzuschaffen gewußt und sie mit Hunde- und Katzenknochen sowie ähnlichen Trümmern angefüllt. Sein Lächeln über den Pomp, welcher diesen Kehrichtabfällen zu Ehren stattfand, und besonders über ihre Kraft, die Dämonen auszutreiben, dürfte also verzeihlich erscheinen. Disraeli setzt hinzu, daß Fürst Radziwil nach dieser Erklärung ein eifriger Lutheraner geworden sei, überzeugt, daß die Heilung der Besessenen ein bloßer Betrug seiner Mönche gewesen sein müsse.

In der That kennzeichnet auch die Art, wie die Reliquien und Heiligen eine Heilung bewirken, den Vorgang als ganz gewöhnlichen Zauber. Man hängt bekanntlich ein Abbild des kranken Gliedes aus Wachs vor dem Reliquien-Schreine auf, damit die heilkräftige Wirkung erst auf dieses Abbild und dann sympathisch auf das Urbild zurückwirke. Es ist einfach die Umkehrung des bei den alten Griechen und Römern, sowie namentlich vom dreizehnten bis siebenzehnten Jahrhundert herrschenden Aberglaubens, daß man Jemanden durch Beschädigung seines Abbildes, durch das Stechen, Enthaupten oder Schmelzen desselben krankmachen und tödten könnte, eines furchtbaren Aberglaubens, der in Frankreich vielen hochgestellten Personen im Proceßwege das Leben gekostet hat. Der Reliquien-Schwindel schädigt aber die Gesellschaft nicht blos dadurch, daß er dem Aberglauben Vorschub leistet, sondern auch unmittelbar diejenigen Kranken, die im Vertrauen darauf, daß kein Arzt heilen könne, was selbst dem Heiligen unmöglich sei, die Hülfe des Ersteren aufzusuchen versäumen.

Was soll ich endlich von dem meist mit den Reliquien-Ausstellungen verbundenen Ablaßhandel sagen? Ueberall verkauft man nebenbei geweihte Wachsschafe gleichsam als ironische Ebenbilder des Käufers, die „wahre Länge des Kreuzes Christi“, ein heilkräftiges Band mit dem Siegel der Kirche und ähnlichen Unsinn. Am verderblichsten für die Sittlichkeit des Volkes ist ohne Zweifel der für das Anglotzen der Reliquien gewährte Ablaß aller Sünden. Das Aachener Stift behauptet sogar das Recht zu haben, seit den Zeiten des großen Karl einen vollkommenen Ablaß für alle bis zur Heiligthumsfahrt begangenen Sünden gewähren zu können, Ursache genug, die Aachener Heiligthumsfahrt zu einer der bedeutendsten in der Christenheit zu machen. Wie es damit in den alten Zeiten gestanden hat, ist nicht sicher nachzuweisen; Papst Leo der Zehnte soll durch seinen Ablaßbrief Aachen mit Jerusalem gleichgestellt haben; allein auch diese Urkunde ist verloren. Indessen besteht der Ablaßkram noch heute und Papst Pius der Neunte verlängert ihn von zehn zu zehn Jahren. Wie lange wird dieser Schwindel, der doch offenbar direct die Sittlichkeit und das allgemeine Rechtsbewußtsein schädigt, noch vom Staate geduldet werden? Die Reliquien des heil. Nepomuk in Prag, der bekanntlich nicht wegen Bewahrung des Beichtgeheimnisses, sondern wegen einfacher Widersetzlichkeit gegen das Staatsoberhaupt von der Moldaubrücke gestürzt wurde, sind von den Pfaffen sogar in den Ruf gebracht worden, Mörder und Verbrecher aller Art, die voll Vertrauen zu ihnen beten, vor der Entdeckung ihres Geheimnisses durch die weltliche Obrigkeit zu beschützen.

Zu einigen Schlußbemerkungen giebt mir noch das vielgenannte Reliquienkästchen „Noli me tangere“ (Berühre mich nicht!) des Aachener Stifts Anlaß. Dieses im Jahre 1356 mit dem Geheiß, es „der Würde der Kirche wegen“ niemals zu öffnen, verschlossene Kästchen enthielt angeblich Theile der großen Reliquien, die ein frommer Mann – denn Reliquien stehlen ist ja keine Sünde, wenn es aus, wahrer Verehrung geschieht – aus dem Marien-Schreine gestohlen und, wie man sagte, auf dem Todtenbette zurückerstattet habe. Als die Kaiserin Josephine im Jahre 1809 die Heiligthümer des Münsters in Augenschein nahm, ging das Kästchen von selbst auf, und man fand in der That abgeschnittene Gewebstückchen darin, die den vier großen Heiligthümern angehört haben sollen, aber seitdem theilweise verschwunden sind. Es entsteht der dringende Verdacht, daß beim Schlusse des „Noli me tangere“ nicht sowohl der Wunsch, den geschehenen Diebstahl zu verheimlichen, als vielmehr der Umstand maßgebend gewesen ist, daß besagte Abschnitte dem Stoffe nach nicht mit dem inzwischen vielleicht erneuerten Inhalte des Kleiderschrankes übereinstimmend gefunden wurden. Nur ein ähnlicher Beweggrund konnte ein ewiges Verschließen „der Würde der Kirche wegen“ rechtfertigen. Diese meine Hypothese wird durch Zweierlei unterstützt, erstens durch das erneute Verschwinden mehrerer dieser Fragmente, und zweitens durch das alte Herkommen, beim Anfange und beim Schlusse der Ausstellung mit dem Noli me tangere-Reliquiar den Segen zu geben. Man deutete dadurch an, daß hierin die einzigen Ueberbleibsel seien, die einen entfernten Anspruch auf wirkliche Echtheit, das heißt auf die Möglichkeit einer solchen hätten.

Wer weiß, ob nicht überhaupt der ganze Vorrath Carolingischer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_762.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)