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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Reliquien bei dem großen Brande des Aachener Münsters (1236) zu Grunde ging. Verdächtig genug ist der Umstand, daß fast alle Reliquienbehälter, der prachtvolle Marienschrein, in welchem die vier großen Reliquien bewahrt werden, voran, Kunstwerke einer späteren Zeit sind, und daß fast alle Documente und Schriftstücke (deren Alter man wissenschaftlich feststellen könnte, was bei Knochenresten und Geweben nicht so leicht ist) aus der Zeit vor dem Brande verschwunden sind. Es wird zwar erzählt, daß der damalige Domdechant noch auf dem Todtenbette versichert habe, alle Heiligthümer des Domes gerettet zu haben, allein wen wird eine solche selbstverständliche „Domtradition“ überzeugen? Mir und den meisten meiner Leser wird es überdem ziemlich gleichgültig erscheinen, ob das jetzt vorgezeigte Gerümpel noch dasselbe ist, welches für zweifellos hohe Preise erworben wurde, denn die Wahrscheinlichkeit irgend einer Echtheit haftete schon jenen nicht an. Reliquien haben vor anderen todten Capitalien den Vortheil voraus, daß man sie nicht gegen Brand, Plünderung etc. zu versichern braucht, denn man weiß beinahe kein Beispiel, daß jemals Reliquien durch Brand oder Plünderung verloren gegangen wären. Als man in der französischen Revolution den Aberglauben mit Stumpf und Stiel auszurotten beschloß, da trug man das Gerippe der heiligen Genoveva und alles ähnliche alte Knochen- und Lumpenthum von Paris zu einem großen Scheiterhaufen auf den Grève-Platze zusammen und verbrannte es sorgfältig im Beisein einer großen Menschenmenge. Nichtsdestoweniger ist heute das Skelet in ziemlicher Vollständigkeit wieder im Pantheon zu Paris beisammen, angeblich aus Stücken gesammelt, die vorher an verschiedene Kirchen vertheilt worden waren. Vielleicht war es überhaupt ganz unnöthig, daß der Aachener Domdechant die Reliquien rettete, denn von dem darunter befindlichen Schweißtuche Christi weiß man durch die Legende, daß es, in’s Feuer geworfen, unverletzt emporstieg und in den Schooß eines Christen niederfiel.

Von der großen Sorgfalt, mit welcher das Aachener Stift jederzeit seine Reliquien aufbewahrt hat, legt ein Umstand Zeugniß ab, der den Gläubigen beinahe unmöglich erscheinen wird. Was werden sie sagen, wenn ich ihnen erzähle, daß der Münsterschatz Hunderte kleiner Reliquien in Beutelchen, Schachteln und Kapseln aufweist, deren Name und Charakter ganz und gar verloren gegangen ist. Sie sind theilweise ganz in Staub und Fetzen zerfallen, wahrscheinlich also älter und beachtenswerther als diejenigen, mit denen man paradirt; nicht einmal die Namen zu notiren haben die frommen Schatzhüter für nöthig gehalten. Doch genug oder vielmehr schon zuviel über diese Alterthümer, den Kehrichthaufen des Aberglaubens, welchen wegzufegen wohl endlich an der Zeit wäre. Aber vielleicht kann man umgekehrt wünschen, daß diese Ausstellungen fortdauern. Diejenige des heiligen Rocks in Trier hat Millionen die Augen geöffnet und die des Aachener Stifts bringen alle sieben Jahre eine Auswahl der schönsten Denkmäler des frommen Eifers zur öffentlichen Notiznahme. Es sind wahre Prachtstücke darunter, z. B. ein kolossaler Mittelhandknochen vom Daumen des heiligen Christophorus, eine Reliquie vom heiligen Georg, dessen Skelet in sechsundzwanzig Exemplaren die Kirchen unsicher macht, obwohl bereits Papst Gelasius 494 seine Legende als Dichtung erklärte etc. Auf Wiedersehen denn nach sieben Jahren!




Blätter und Blüthen.


Aus alter Zeit. (Mit Abbildung, S. 763.) Im Skizzenbuche eines Freundes blätternd, der als feinfühliger Bildhauer häufig an den in reicherem Style ausgeführten Neubauten Stuttgarts beschäftigt ist, unterhielt ich mich mit ihm über den Aufschwung der Architectur in der Schwabenhauptstadt und über deren Eigenart, welche zu ihrem bildlichen Schmuck sehr häufig Motive aus der Pflanzenwelt verwendet und dadurch zierlich, sinnig und fein wird, während zum Beispiel in der Nachbarhauptstadt München die Bauformen gern breit, schwer und gewaltig werden. Von der Untersuchung der Gründe dieser verschiedenen Erscheinung – hier das Weinland mit seinen Hügeln, seiner feinen und doch festen Steinart, welche zu zarten Ausführungen von selbst einladet, und dabei der beweglichere Charakter des Volksstammes; dort die breit ausgegossenen Flächen der Donau- und Isarniederung, der Backsteinbau und der Biercultus – kamen wir auf die vom Urheber des Skizzenbuches so oft angewandte Benutzung der in Pflanzen und Blüthen schon gegebenen Formen für das Ornament, und es war wirklich erstaunlich, wie in diesen Zeichnungen nach der Natur die ordnende Hand des Bildhauers durch scheinbar nur unwesentliche Aenderungen oft aus den einfachsten Pflanzenformen, aus Petersilie, aus einem Waldglöckchen etc., die feinsten Motive für irgend eine Rosette oder andere Ornamentenbestandtheile herausgebildet hatte.

Es mutheten diese Zeichnungen das Auge an, wie etwa die kurze Rede eines verständigen Mannes das Ohr.

Mitten in diesen Blättern hielt ich plötzlich inne und fragte den Bildhauer: „Wo ist denn das zu finden?“ – Es war eine edle weibliche Figur in Nonnentracht, von einer spitzbogigen Nische umschlossen, welche wieder mit reichen Ornamenten und Wappenschildern umsäumt war; die ganze Erscheinung war auch diesmal nur mit wenigen Linien, das Wesentliche wiedergebend, ausgeführt.

„Ja, dies ist freilich schön,“ antwortete er; „es ist ein Grabstein in der Ruine einer Kirche in Unter-Riexingen,[WS 1] der mit noch manchen anderen, umrankt von wilden Pflanzen, dort im Innern der Kirche steht.“

Von da an ließ mir die alte Edelfrau in ihren Nonnenkleidern keine Ruhe mehr, und als eine Woche später der Himmel gar zu mailustig blaute und auf der Erde Blüthe um Blüthe sich aufschloß, da flog ich hinaus zum Stelldichein mit meiner steinernen Ersehnten. In Bietigheim, den Dampf und Ruß des Bahnzuges abschüttelnd, brachten mich schon ein paar Schritte weg vom lärmenden Gewühle und hinein in die sonnenduftige Thalebene der Enz, welche in tiefem Einschnitt hier mit vielfachen weich geschwungenen Bögen thalabwärts schleicht, um eine Stunde weiter unten sich mit dem lustigen Neckar zu verbinden. Wie so ganz anders springt die fröhliche, goldbraune und doch so bis zum Grund klare Schwarzwaldtochter weit hinten in den immergrünen Wäldern von Fels zu Fels, brausend und schäumend vor Jugendlust! Aber freilich in Wildbad schon mußte sie sich von so und so viel übercultivirten Menschen angucken und kritisiren lassen; dann legte man ihr Wehr um Wehr, Damm um Damm vor, bis sie vom vielen Stauen und Hemmen lebensmüde und vom vielen Arbeiten und Menschenverkehr schmutzig und trübe geworden ist. Aber auch auf ihr glänzte nun das Frühlingssonnenlicht und wob seinen silbernen Strahlenschleier über ihren stillen Spiegel.

Kaum eine Stunde an ihren blühenden Ufern aufwärtsschreitend, sah ich nach einer raschen Wegwanderung das Dorf Unter-Riexingen[WS 1] vor mir, auf der einen Seite mit einem neueren Schloß mit Park und einem alten Festungsthurme, auf der andern Seite von der Kirchenruine und einem sanft ansteigenden Hügel flankirt. Wo ein Dorf oder Städtchen zwei derartige Flügelmänner auf den Seiten hat, da ist im Innern desselben in der Regel wenig Einladendes zu schauen; auch hier war’s so; ich vermied deshalb die ärmlichen Häuser, schritt unter lauter blühenden Bäumen an einem munteren Bächlein hin und stand nach wenigen Minuten vor der so malerischen Kirchenruine, deren Vorplatz nun zum Kirchhofe dient; ein Sprung über die Umfassungsmauer und einige Schritte über niedrige Hügel führten mich durch die spitzbogige Thüröffnung, und ich stand vor dem steinernen Frauenbilde, das mich hierher gerufen. Aber meine Blicke blieben nicht allzu lange auf demselben haften, obgleich sie hier noch schöner und in künstlerischer Hinsicht vollendeter schien, als jene flüchtigen Skizzenstriche es ahnen ließen; denn außer ihrem Steinbilde stand noch eine ganze Reihe anderer Figuren, theils Männer in Ritterrüstung, theils Frauen im Costüme der Edeldamen des Mittelalters, theils Kinder, mit mehr oder weniger Kunstvermögen in Relief oder im lebensgroßen Rundbilde in Stein gemeißelt, vor meinem verwunderten Auge; selbst der ganze Boden war überdeckt mit Grabsteinen in ganz unverdorbener Bildhauerarbeit. Ringsum zeigten sich die Umfassungsmauern an Stellen, wo Regen und Hagel die Wand nicht erreichen konnten, mit Fresken übermalt, welche meistens Scenen aus dem jüngsten Gerichte darstellten, oft in wunderschöner Linienführung gezeichnet, aber – höchst wahrscheinlich von anderer Hand – in kindisch einfacher Weise ausgeführt.

Oben über all den Grabsteinen, Bildern und Mauern war aber keinerlei Dach mehr. Regen und Schnee, Wolken und Sonne ziehen durch die offenen Kirchenräume, und dem entsprechend sah denn auch der Kirchenboden aus; wo nur irgend eine Spalte zwischen den Grabsteinen vorhanden war, da hatte sich Erde angesammelt; Samenkörner waren vom Winde hereingetragen worden, und so hatte sich im Reiche der Kirche, der Kunst und des Todes die unsterbliche Natur immer reicher sprossend entwickelt und den jetzigen Zustand herbeigeführt; denn Epheu rankt sich auf an den Edelfrauen und Rittern; Brombeerstauden und Himbeerbüsche haben ein Viertheil des Kirchenraumes in Manneshöhe mit ihrem tiefen Grün überwuchert, und an anderen Stellen haben Holunderstauden sich schon zu kleinen Bäumen entwickelt, haben am Boden, wo die Fuge zwischen den Grabsteinen zu eng wurde, kurzweg eine Ecke der Steinplatten weggesprengt und strecken nun ihre schirmförmigen Blattkuppeln mit den weißen Blüthendolden dem Sonnenlichte zu. Ebenso seltsam, fast wunderbar sieht es im Chore aus, zu welchem vom Kirchenraume aus ein mächtiger Spitzbogen den Zutritt öffnet; dort ist kein Pflanzenwuchs auf dem Boden zu sehen, aber ein desto sonderbareres Dach steht drohend über demselben.

Zeit und Wetter haben nämlich auch hier von außen die Ziegel und Balken, welche dieselben trugen, zerstückelt und vernichtet; Regen und Schnee konnten somit ungehindert auf das Chorgewölbe einwirken und haben denn auch Kalk und Bindemittel von den Gurtbögen und den Füllsteinen der Chordecke auf’s Gründlichste weggewaschen, so daß man, unten im Chor stehend, zwischen jeder Steinfuge durch den Himmel sieht, und die ganze Decke, welche jetzt nur noch durch die gegenseitige Spannung der Steine zusammenhält, wie ein Damoklesschwert über dem Beschauer

Anmerkungen (Wikisource)

  1. a b Vorlage: Rinxingen
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 764. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_764.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)