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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Der letzte Sonnensohn.
Nachdruck untersagt.
Eine Historie von Johannes Scherr.


1.


Werden, wachsen, blühen, welken, vergehen! Das in das ewige Gesetz der Natur und der Geschichte. Wie für die Pflanze und wie für die einzelnen Menschen, gilt es auch für die Völker. In seiner 1844 geschriebenen Strophe:

„Am Baum der Menschheit drängt sich Blüth’ an Blüthe,
Nach ew’gen Regeln wiegen sie sich drauf;
Wenn hier die eine matt und welk verglühte,
Springt dort die and’re voll und prächtig auf;
Ein ewig Kommen und ein ewig Gehen
Und nun und nimmer träger Stillestand!
Wir seh’n sie auf-, wir seh’n sie niederwehen
Und jede Blüthe ist ein Volk, ein Land –“

hat Freiligrath dieses Naturgesetz, diese weltgeschichtliche Thatsache in schöne Worte gekleidet.

In unsern Tagen ist für den von Ewigkeit her und in Ewigkeit hin sich vollziehenden Wechsel von Leben und Sterben im Universum das Modewort „Kampf um’s Dasein“ aufgekommen. Es hat seine Vollberechtigung. Nicht nur „Mensch sein heißt ein Kämpfer sein“, sondern existiren wollen heißt kämpfen müssen. Fressen oder gefressen werden! Es gibt kein Drittes. Diese eiserne Nothwendigkeit steigt von den niedrigsten Organismen bis zu den höchsten empor. Vom Grashalm bis zum Menschen, vom Menschen bis zu den Weltkörpern – alles kämpft um sein Dasein. Wir wissen jetzt, der Golden-Zeitalter-Friede, welcher im Beginne der menschlichen Gesellschaft geherrscht haben soll, ist nur eine Fabel für Kinder, der „ewige Friede“, welcher die sociale Entwickelung krönen soll, ein Märchen für ausgewachsene Schwachköpfe. Die Geschichte der Menschheit war, ist und bleibt ein ewiger Krieg. Wozu aber der ganze Gräuel? Ja, wer das wüßte! Alle Religionen, alle Philosopheme haben die traurige Räthselfrage nach „des Menschenlebens Sinn und Frommen“ zu beantworten versucht und haben alle mitsammen als Antwort nur ein Chaos von Unsinn zuwegegebracht.

Die sogenannte Weltgeschichte zeigt uns, wie ein Volk nach dem andern auf die geschichtliche Bühne tritt, mit mehr oder weniger Geschick und Kunst seine Rolle spielt, mehr oder weniger Effect macht und dann abgeht, einen mehr oder weniger nachhaltigen Eindruck hinterlassend. Wo sind denn die Nationen und Staaten, welche im Alterthum die „Heldenrollen“ innehatten? Wo ist das ägyptische, das assyrische, das persische, das makedonisch-griechische, das römische „Weltreich“? Schon lange dahin, schon lange zu Moder geworden, um die Erde für das Wachsthum von neuen Staatengebilden zu düngen. Für jedes Volk, für jeden Staat gilt das alte Seherwort:

„Einst wird kommen der Tag, wo die heilige Ilios hinsinkt“ –

wobei nur zu bemerken, daß beim Hinsinken der verschiedenen Iliosse von Heiligkeit durchaus nichts wahrgenommen zu werden pflegt. Das Welken von Pflanzen, Thieren, Menschen, Völkern und sicherlich auch von Gestirnen ist eben ein häßlicher Proceß. Seine Häßlichkeit ist das genaue Gegenbild zur Hoffnungsfrische des Wachsens und zum Schönheitsglanze des Blühens.

Wollt ihr ein solches Völkerwelken mitansehen? Blickt nach Spanien!

Vor dreihundert Jahren – eine wahre Bagatelle von Zeit! – war dieses Land die führende und gebietende „Weltmacht“. Heute ist es eine Ruine. Eine Ruine allerdings, die sich noch immer für einen Staatsbau ausgeben möchte; aber trotz alledem eine Ruine, in zur Permanenz gewordenen Revolutionen, Gegenrevolutionen, Palastskandalen und Bürgerkriegen Stein für Stein zerbröckelnd. Im 16. und noch im 17. Jahrhundert stand der dichterische und künstlerische Genius des Landes schöpfungsmächtig da: Zurbaran, Velasquez und Murillo malten; Cervantes dichtete den Don Quijote, eines der tiefsinnigsten Werke, welche jemals einem Poetengehirn entsprungen; Lope entfaltete eine geradezu wunderbare Hervorbringungskraft; Calderon schuf den spanischen Faust („el magico prodigioso“), Moreto die graziöseste Komödie der Weltliteratur („el desden con el desden“). Heute trägt die spanische Literatur sklavisch die Schleppe der französischen, welche früher bei ihr die umfassendsten Anleihen aufgenommen hatte, und seit langem vermag Spanien an der wissenschaftlichen Arbeit Europas in ihren höheren und höchsten Graden nicht mehr theilzunehmen.

Spanien ist an der Religion zu Grunde gegangen, also an etwas, dessen, die Herren Kraftstoffel mögen sagen, was sie wollen, die menschliche Gesellschaft nie und nirgends entbehren konnte, kann und können wird. Denn, wie ich auch hier wiederholen muß, die Religion ist der Idealismus des Volkes. Sie ist und bleibt das einzige Mittel, wodurch sich das Volk – ich rede natürlich nicht von dem abstrakten Ding von „Volk“, welches die Jan-Bockolte unserer Tage lächerlich-willkürlich zusammengeschneidert und aufgeschwindelt haben – mit der idealen Welt, die aller Kraftstoffelei zum Trotz ein sehr reales kulturgeschichtliches Motiv ist und bleibt, in Beziehung setzen kann, wenn auch noch so unzulänglich und in noch so grotesken Formen. In Spanien hatte sich, wie jedermann weiß, die Religion in Folge der jahrhundertelangen Kämpfe der sogenannten Christen mit den Islamiten zum wildesten Fanatismus hinaufgesteigert. Alles wurde diesem geopfert. Der Spanier war immer Katholik, Spanier oft, Mensch nie, außer in seinen Lastern. Die Inquisitionsfeuerbrände, welche die spanischen Ketzer verzehrten, haben auch die ganze Zukunft der Nation versengt.

Aber gewiß ist auch, zur Zeit, wo die Religion in Spanien zu so hochrother Feuerblüthe ausgeschlagen war, da hat sie – immer in ihrem Sinne freilich – das gesammte Dasein der Nation auf allen Gebieten zu außerordentlicher Kraftentwickelung gebracht und unzählige neue Beweise für die alte Thatsache geliefert, daß die Religion, wie sie die furchtbarsten Leidenschaften im Menschen aufzustürmen vermag, so auch die edelsten menschlichen Triebe zur Vollbringung der staunenswerthesten, ja geradezu unerhörter Thaten anzueifern versteht.

Denn – und damit lenken wir auf den Boden hinüber, auf welchem unsere Historie spielt – es kann keinem Zweifel unterstellt werden, daß dem blendenden, von Romantik funkelnden Heldenzug, welchen die Spanier im 16. Jahrhundert durch die unermeßlichen Länderstrecken der Neuen Welt führten, des Kreuz vorangetragen wurde. Allerdings, der wilde Golddurst, welcher durch die in’s Märchenhafte übertriebene Kunde von den edlen Metallschätzen Amerikas in den Spaniern geweckt worden, die zur fixen Idee gewordene Vorstellung vom „El Dorado“, ebenso die durch die Moriskenkriege bis zur hellen Don-Quijoterie hinaufgespannte spanische Abenteuersucht, endlich der den Untertanen des „Weltmonarchen“ Karl’s V. unschwer angeflogene Größenwahn, alle diese Elemente haben zur Weckung, Schärfung und Schulung eines Unternehmungsgeistes, für welchen der Begriff des Unmöglichen gar nicht vorhanden war, sehr viel beigetragen. Aber die Seele der spanischen „Conquista“, d. h. der beispiellosen Eroberungen der Spanier in der Neuen Welt, war thatsächlich doch die Religion, derselbe glühend-fanatische Glaube, welcher jeden Spanier innigst überzeugt sein ließ, daß er für die Sache Gottes und der heiligen Jungfrau stritte, daß er, je mehr „Seelen“ der rothen Heiden er zur Hölle spedire, um so zuversichtlicher erwarten dürfte, daß seine eigene Seele in den Himmel eingehen werde. Ohne die völlige Hingabe der spanischen „Conquistadoren“ an ihren religiösen Wahn wären ihre Vollbringungen geradezu unerklärlich, im Guten wie im Bösen. Es ist ein und derselbe spanische Katholicismus gewesen, welcher das Kreuz auf die Alhambra pflanzte, die gräuelhaften „Glaubensakte“ (Autos de fé) feierte, die deutschen Protestanten bei Mühlberg schlug, das Henkerschwert Alba’s in den Niederlanden führte, den großen Teokalli in Tenochtitlan erstürmte und den goldenen Tempel der Sonne in Kuzko zu einer Soldatenbeute machte.




2.


In Truxillo, einer Stadt der Landschaft Estremadura, wurde um das Jahr 1471 ein Bastard geboren, Francisko Pizarro, dessen früheste Kindheit so verwahrlos’t war, daß später die nicht gerade reinliche Sage ging, das von seiner Rabenmutter ausgesetzte Findelkind sei nur durch die Barmherzigkeit einer säugenden Sau am Leben erhalten worden. Sicher ist,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 775. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_775.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)