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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Unterschiede zwischen Welt und Kloster nachsann. Später, als ich zum ersten Male in die Welt ging – auf einer Reise mit dem Prälaten –, trug ich die großen Menschentypen des Alterthums in mir und fand das moderne Leben und die modernen Menschen so hohl, so klein, so erbärmlich, daß ich mich nach der braunen Moorebene und der Einsamkeit von Constantin zurücksehnte. Ich begriff wahrhaftig nicht, wo die Menschen, die ich in der mittleren und hohen Gesellschaft sah, den Muth hernahmen, sechszig und noch mehr Jahre ein Leben zu leben, in welchem sie sich vom Thiere durch nichts auszeichnen, als, anstatt im Stalle, unter einer seidenen Federdecke zu schlafen, mit Messer und Gabel zu essen, aus krystallenen Gläsern zu trinken, ein wenig Grammatik zu lernen, sich für Andere anzukleiden, sich gegenseitig anzulügen, zu verleumden, zu hassen, zu zerreißen und zu belächeln.“

Ein anderes Mal sagte er: „Ich bin nicht menschenscheu, es ist nicht Furchtsamkeit, was mir den Umgang mit der Gesellschaft unbehaglich macht; aber ich habe eine so furchtbare moralische Spürkraft, daß ich die Natur eines Menschen beim ersten Blicke erkenne. Es ist dies keine Menschenkenntniß, es ist reine Gefühlssache, und ich bin darum zu bedauern, denn die Sympathien und Antipathien unterjochen mich gänzlich. Um mit einer solchen Organisation in der Welt vorwärts zu kommen, muß man ein niedriger Heuchler werden. Meine Einsamkeit hingegen läßt mir meine ganze Freiheit. Ich habe nicht nöthig, mir Freunde oder Gönner zu machen; ich darf volle, schwarze Abneigungen haben und sie zeigen und mich ruhig darum hassen lassen.“

Bodiwil hatte, ohne schön zu sein, Momente von großer Schönheit. Sein dunkles, hochgebautes Auge war von seltener Klarheit und Festigkeit. Seine Nasenflügel, welche sich unter einer gebogenen, fast zu feinen Nase wölbten, waren von einer Lebhaftigkeit, die seine Erregbarkeit verrieth. Er trug, nach dem Gesetze des Ordens, keinen Bart. Sein Mund war fest und ruhig; aber wenn Bodiwil sprach, dann spielte um die Winkel eine seltsame Mischung von geistreichem Uebermuthe und heimlichem Schmerze.

Obwohl wir sehr vertraut geworden waren, hatte Bodiwil für mich etwas Räthselhaftes. Er verschwand zuweilen für mehrere Stunden, für einen halben Tag; dann machte er seine einsamen Spaziergänge. Er sagte mir nie, wo er gewesen, welche Pflanzen oder Insecten er gesammelt. Diese Spaziergänge machte er bei Regen und Sturm wie bei Sonnenschein. Er hatte im Garten einen Lieblingsplatz, eine Rotunde von Kastanien, unter welchen eine steinerne Bank stand. Wir saßen oft bis spät Abends dort und plauderten, wenn es zu dunkel zum Lesen geworden. Zuweilen, wenn der Abend kalt war, holte er Mäntel und Decken für uns Beide. Er hatte, wie es mir schien, eine fast krankhafte Vorliebe für jenen Platz. Wenn wir im Garten auf- und abgingen und es saß einer der Stiftsherren auf der Bank, so bemerkte ich, daß Bodiwil unruhig, ungeduldig wurde, und mehr als einmal sagte er dann: „Will Er denn noch nicht aufstehen und gehen?“ Ein fast trostloser Ausdruck überzog sein Gesicht, wenn er von seiner Bank abgerufen wurde. Auch sah ich ihn von meinen Fenstern aus zu verschiedenen Tageszeiten in der Rotunde sitzen oder an einen der Bäume gelehnt, ein Buch in der Hand und über das Buch hinaus träumerisch in die Landschaft schauend.

Diese Landschaft hatte indessen keinen besonderen Reiz. Es war, wie gesagt, eine moorichte Ebene, weit hingestreckt, in welcher zuweilen ein Wäldchen grünte oder auch ein Busch Haidekraut. An den Hügeln hingen einige vereinzelte Bauernhäuser, von Wiesen oder Feldern umgeben. Der in der Ferne sichtbare Zweig der julischen Alpen war fast immer verschleiert.

Einer der periodischen Seen, welche in Dalmatien häufig, aber im Sommer trocken sind und erst im Spätherbste sich füllen, gähnte dunkel in der Ebene, und nur selten glitzerte aus ihm ein seichter Wasserstreifen.

Oft hingen, da wir schon im September waren, dichte Nebel an den Hügeln und wallten schwermüthig über das Moor hin. Bodiwil pflegte dann ein kurzes Fernglas aus der Tasche zu ziehen und nach den Hügeln hinzublicken. Ich unterließ instinctmäßig, ihn wegen dieser Seltsamkeit zu befragen. Wenn ich Abends neben ihm in der Rotunde saß und sein brennendes Auge die Lichtlein auf den Hügeln verschlingen sah, als wären sie Sterne des Himmels, dann war mir zu Muthe, als säße ich neben einem Geheimnisse, und dieses Geheimniß schien nicht unter einem Schleier, sondern unter Siegeln zu schlummern.

Eines Tages that Bodiwil’s Herz einen Schrei, und die Siegel sprangen. Ich war seit vier Wochen im Stifte, als eines Nachmittags, während ich beim Flüstern des Regens auf meinem Zimmer malte, rasche Schritte gegen meine Thür kamen. Man klopfte an dieselbe und trat gleichzeitig ein. Es war Bodiwil. Als ich ihn sah, stand ich sprachlos und der Pinsel entfiel meiner Hand.

Bodiwil war todtenbleich, und seine Züge drückten die tiefste Verzweiflung aus. Er faßte meinen Arm und fragte mit erstickter Stimme: „Haben Sie Freundschaft für mich?“

„Können Sie zweifeln?“ fragte ich zurück.

„Ich liebe ein Weib und dieses Weib ist sterbend,“ rief er, mit beiden Händen seinen Kopf fassend.

„Um des Himmels willen, was kann ich für Sie thun? – “ fragte ich, kaum der Sprache mächtig.

„Gehen Sie zu ihr, gleich, augenblicklich! Sagen Sie ihr, daß ich in einer halben Stunde bei ihr sein werde. Ich kann jetzt nicht gehen, ich kann nicht. Der Prälat ist soeben angekommen und hat nach mir verlangt. Sagen Sie ihr, daß ich in einer halben Stunde bei ihr sein werde – wenn ich bis dahin nicht wahnsinnig bin,“ rief er mit herzbrechendem Tone. „Verlangen Sie, sie selbst zu sprechen! Sagen Sie ihr, daß Sie mein Freund und von mir geschickt sind! Suchen Sie etwas zu ihrer Erleichterung, zu ihrer Rettung zu thun! In meinem Zimmer finden Sie einen Mann, der Sie hinführen wird. Wenn Sie schnell gehen, so können Sie in zehn Minuten dort sein. Nicht wahr, Sie gehen schnell, schnell, schnell!?“

Ich versprach Alles.

„Ich werde Ihnen später Alles erzählen,“ sagte Bodiwil mit bebender Stimme; „später, morgen, wenn’s ein Morgen für mich giebt.“

(Fortsetzung folgt.)



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Die Leipziger Puppendoctorin.

Auch ein Weihnachtsbild.

Weihnachten rückte heran. Mann und Weib steckten die Köpfe zusammen, um den nicht zu umgehenden Weihnachtsetat vorsichtig festzustellen. Kinder kosten Geld, und Puppen auch. Fünf Kinder, neben einander gestellt wie die Orgelpfeifen und außerdem die dazu gehörigen Puppen und, wie man zu sagen pflegt, was sonst noch drum und dran hängt – das wollte „reiflich überlegt sein, um es faßlich wiederzugeben“, zumal die vorhandenen Puppen sich in einem hoffnungslosen Zustande befanden. Glücklich priesen wir uns daher, als wir von befreundeter Seite zu unserer Verwunderung hörten, daß in Leipzig, unserem Wohnorte, eine Puppendoctorin existire. Natürlich wurde diese sofort in Anspruch genommen, und als mir mein Weib freudestrahlend die Nachricht brachte, daß sie die Puppendoctorin glücklich aufgefunden und die ganze Puppendoctorei ein reizendes Bild für die Gartenlaube gebe, begab ich mich selbst an Ort und Stelle. Als ich in’s Zimmer trat, das der Leser nun im Bilde vor sich sieht, was konnte ich da anderes ausrufen, als: „Ist das ein Märchen? Hat hier eine Puppenschlacht stattgefunden und ist die kleine Frau drinnen nicht die wunderthätige Fee, welche sich der hülflosen Verwundeten und der schauderhaft zugerichteten Puppen erbarmt und ihnen Allen zu einem neuen Leben verhilft?“ Und doch, eine Puppenschlacht ist hier nicht geschlagen worden, sondern es ging Alles ganz natürlich zu. Bei eingehenderer Besichtigung unseres Bildes findet man auch, daß trotz des kunterbunten Durcheinander doch vollständig Ruhe und Friede herrscht, ja aus dieser Welt im Kleinen lacht und leuchtet uns eine Unschuld entgegen, die wirklich bis in die Puppen geht. Alles, was man hier sieht, ist gewissenhaft der Wirklichkeit entnommen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 786. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_786.jpg&oldid=- (Version vom 28.2.2023)