Seite:Die Gartenlaube (1874) 789.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

und Frohgefühl sofort theuer bezahlen. Die Dämonen des Schwindels stürzten darüber her und überrumpelten es in seiner Siegesfreude und nationalen Begeisterung. Die heiligsten Gefühle eines Volkes wurden von der Speculation und von dem Schwindel für ihre schnöden Umtriebe, für ihre verbrecherischen Zwecke ausgebeutet.

Freilich, der Boden war schon früher vorbereitet. Schon seit 1866 begann das Börsentreiben, das bis dahin hauptsächlich in Paris blühte, sich auch nach Deutschland zu verpflanzen und auch hier üppig emporzuwuchern Die Berliner Börse überholte die Plätze von Hamburg und Frankfurt am Main und fing an, mit ihrer Schwester in Wien mächtig zu wetteifern. Der Börsenverkehr nahm, wie der Börsenjargon sich ausdrückt, einen „internationalen Charakter“ an; das heißt, die Geldmächte aller Länder reichten einander die Hände zum schönen Bunde, Allerhand fremde „Fonds“, darunter die famosen „Italiener“ und die noch famoseren „Türken“; allerhand unsagbare „Lotterieanleihen“, zum Beispiel Schwedische Zehnthaler- und gar Neuenburger Zehnfranken-Loose wurden gleichzeitig an den Börsen eingeführt, und das Geld floß in einem Gewirr von Bächen und Canälen in’s Ausland ab. Hundert Banken und Bänkchen überschwemmten die deutschen Staaten mit ihren Noten, und die Papiergeldwirthschaft bedrohte und schädigte das Publicum über die Maßen. Gewisse Effecten, wie die Actien der Oesterreichischen Creditanstalt, der Oesterreichischen Südbahn und der Oesterreichisch-Französischen Staatsbahn (kurzweg „Credit“, „Lombarden“ und „Franzosen“ genannt), wurden zu Spielpapieren an allen europäischen Börsen; und das sogenannte Differenz- oder Zeitgeschäft, wo man verkauft, was man gar nicht hat, und wo man kauft, was man nie beziehen will – bildete, wie früher in Paris und Wien, nun auch in Berlin den eigentlichen Börsenverkehr, gegen welchen das Cassageschäft, das sind die wirklichen Käufe und Verkäufe, immer mehr in den Hintergrund trat.

Mancherlei Projectenmacher, Glücksjäger und Industrieritter kamen nach Berlin und excellirten hier wie kaum anderswo. Am Himmel der Speculation schoß ein neues Gestirn herauf, ein Komet mit riesigem, unendlich langem Schweife, und der eigenthümlich schillernde und glitzernde Schein, den er verbreitete, verdunkelte bald das sonstige Licht, namentlich auch das in dem Hirne seiner neuen Mitbürger. Dieser Komet nannte sich Strousberg; er war ein Sohn des auserwählten Volks und gebürtig aus dem polnischen Ostpreußen, da, wo Fuchs und Wolf sich „Gute Nacht!“ sagen. Seine Thaten und seine Erfolge harren noch ihres eigentlichen Sängers, aber sie waren so wunderbar, so fabelhaft, daß eifrige Jünger und ehrliche Schwärmer ihn den „Eisenbahnkönig“ hießen, ihn als einen „Culturheros“ feierten. Wie das Leben aller Heroen und Halbgötter ist auch die Geschichte Strousberg’s ein – Mythos. Als zwölfjähriger polnischer Judenjüngling wanderte Baruch Hirsch Straußberg nach England und traf zwanzig Jahre später als ein der christlichen Kirche angehöriger Doctor Bethel Henry Strousberg in Berlin ein. Was er inzwischen getrieben? Wahrscheinlich alles Mögliche. Er selber läßt erzählen, daß er in der Fremde Commis, Reporter, Lehrer, Speculant, Rentier, Redacteur und Dichter (!) gewesen sei. Ohne Frage führte er ein wechselvolles, abenteuerliches Leben, aber es wollte ihm nicht glücken; John Bull und Bruder Jonathan waren nicht dümmer als er, und so kehrte er nach Deutschland zurück, wo er sein Genie endlich verwerthen konnte.

Zunächst war er eine Art Agent oder Commissionär, bis er sich auf den Eisenbahnbau warf, indem er die „Generalentreprise“ oder, wie der Abgeordnete Lasker so treffend sich ausdrückte, das „System Strousberg“ erfand. Er baute binnen wenigen Jahren wohl ein Dutzend Eisenbahnen, und zwar in der originellsten Weise. Er baute mit fremdem Gelde, denn er selber hatte nur Schulden und er baute im Uebrigen so schlecht wie nur möglich und so theuer wie nur denkbar. Natürlich mußten dabei Millionen abfallen, nicht nur für ihn, sondern auch für seine Verbündeten und Helfershelfer. Bald schätzte man ihn für einen zwanzig- bis fünfzigfachen Millionär, nannte ihn den modernen Crösus, einen zweiten Grafen Monte Cristo.

Sein Heraufkommen war rapid, aber doch nicht ohne Hindernisse und ohne Schwierigkeiten. Die Börse und die ganze Geschäftswelt behandelte ihn mit großem Mißtrauen. Lange wies man seine Wechsel zurück, und er konnte sie nur mit ungeheuerem Damno (Verlust) unterbringen. Die von ihm geschaffenen Eisenbahnactien und Eisenbahnprioritäten fanden nur widerwillige Aufnahme; er mußte sie förmlich verschleudern; er schlug sie zu jedem Preise los, aber er fabricirte immer wieder neue und in immer größeren Massen. So machte er Geld und mit dem Gelde machte er alles Uebrige. Zwar lachte und spottete man über den verwegenen Abenteurer, über den dreisten plumpen Emporkömmling, aber seiner Einladung folgte doch die vornehmste Gesellschaft und schmauste und zechte mit ihm. Er besoldete Literaten aller Grade; er beschenkte Journalisten und setzte ihnen Pensionen aus, und so gewann er die Presse. Fortan konnte man in allen Zeitungen täglich Anekdoten und Notizen über den großen „Doctor“ lesen, über seinen luxuriösen Haushalt, über seine Freigebigkeit und Mildthätigkeit, über seine Projecte und Unternehmungen. Herr von Bismarck mußte es sich gefallen lassen, in den pikanten Artikelchen der Localblätter neben Strousberg und neben der Lucca zu figuriren, und diese oder jene Zeitung warf allen Ernstes die Frage auf: Wer denn größer sei, der „eiserne Graf“ oder der „Eisenbahnkönig“? Auch die Witzblätter verarbeiteten den „Wunderdoctor“ in Wort und Bild und machten aus ihm eine stehende Figur. So wurde Strousberg zum Tagesgespräch, die größte Berühmtheit Berlins. An den Schaufenstern der Buchhandlungen erschien der mehr robuste als geistreiche Kopf des großen „Doctors“, sowie eine „Biografische Karakteristik“ (buchstäblich!), geschrieben von einem Literaten, der sich einen Magyaren zu nennen liebt. Strousberg legte sich endlich auch noch eine eigene Zeitung bei, die „Post“; sie erforderte einen Zuschuß von jährlich vierzig- bis achtzigtausend Thalern, hatte zu Mitarbeitern eine gar seltsame Galerie von Charakteren und Capacitäten, leistete aber trotzdem kaum das Mittelmäßigste.

Um seine „Geschäfte“ in’s Werk zu setzen, um allerhand Connexionen zu gewinnen und dadurch von den Regierungen die Concessionen zu erlangen, hatte der „Wunderdoctor“ nur Eine Maxime, die ihn aber nie im Stiche ließ. Sie lautetet: Ein goldener Schlüssel öffnet jede Thür, und ein mit Gold beladener Esel übersteigt jede Mauer. In jedem Bureau war Strousberg bekannt; in jeder Behörde, bis zu den Ministerien hinauf, hatte er seine Freunde und Gönner, die ihm Auskunft und Rath ertheilten, die sein Interesse mit Begeisterung verfochten. Verschiedene hohe Beamte mußten um seinetwillen ihren Abschied nehmen. „Der Mann, der Alles kauft,“ lautete die Ueberschrift eines Artikels[WS 1], den ein Lokalblatt dem großen „Doctor“ widmete.

In der That kaufte Strousberg Alles – das war sein offenes Geheimniß. Zu guter Letzt kaufte er sich noch den hohen und höchsten Adel, Grafen und Herzoge, und zog mit ihnen nach Rumänien. Seine letzte Schöpfung waren circa fünfundsechszig Millionen Thaler siebenundeinhalb procentige Rumänische Eisenbahnobligationen. Dieselben kamen 1868 zum Course von 71 an die Börse und wurden hier unter „Ausländischen Fonds“ notirt, während sie blos von Herrn Strousberg und seinen Genossen, Herzog von Ujest, Herzog von Ratibor und Graf Lehndorff „fundirt“ waren – eine von den vielen Täuschungen, welche die unglücklichen Käufer dieses Papieres erfahren mußten! Als Herr Strousberg und Consorten zu Neujahr 1871 die garantirten Zinsen nicht mehr zahlten, während der betreffende Eisenbahnbau selber liegen geblieben war, sanken die „Rumänier“ bis auf einen Cours von 40 herab, worauf sie durch Vermittelung Dritter in fünfprocentige Actien umgewandelt wurden. Wie viel die hochadligen „Mitconcessionäre“ bei diesem sauberen Geschäfte verdient haben, ist nicht genau bekannt geworden; dem großen „Doctor“ rechnete jedoch Herr J. Hoppe in der „Vossischen Zeitung“ (1871 Nr. 205) nach, daß er mindestens zehn Millionen Thaler in die Tasche gesteckt habe und über fast ebensoviel die Abrechnung schuldig geblieben sei. Mit den „Rumäniern“, die doch zu viel Gestank verbreiteten, trat der „Wunderdoctor“ einstweilen vom Schauplatze ab, und seine Hinterlassenschaft übernahmen die „Discontogesellschaft“ und das Haus S. Bleichröder, indem sie die betrogenen Gläubiger zu einer Actiengesellschaft vereinigten. Man verlangte, daß die Attentäter von ihrer Rente circa fünfundzwanzig Millionen Thaler herausgeben sollten, aber Herr Strousberg bewilligte nur sechs Millionen, und man mußte wohl oder übel damit zufrieden sein, denn der „fünfzigfache

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Artikes
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 789. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_789.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)