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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

‚Ja, Franzose!‘ antwortete der Officier. ‚Vive l’empereur! Ein Bett! Schlafen – eine Stunde!‘

Und er näherte sich bei diesen Worten Marie.

Sie trat noch weiter zurück, als fürchte sie schon seine Nähe. Er lächelte gezwungen und versuchte ihr in das Gesicht zu sehen. Sie hielt den Kopf tief gesenkt. Da streckte er die Hand nach ihr aus, faßte sie am Kinne und richtete ihr den Kopf empor. Kaum hatte er einen Blick in ihr Gesicht gethan, so blieb er starr vor ihr stehen und schaute sie forschend unverwandt an.

‚Wunderbar!‘ sagte er dabei halblaut vor sich hin.

Er hielt sie noch immer am Kinne fest, damit sie den Kopf nicht wieder senke, und dabei fiel ihm nun auch das Medaillon, das sie an diesem Tage, wie immer, am Halse trug, in das Auge.

‚Das Gold sehen!‘ sagte er erregt und griff hastig nach dem Medaillon.

Da fürchtete Marie wohl, er wolle ihr das theure Andenken an ihre Mutter einreißen; sie machte sich gewaltsam von ihm los und floh in das kleine Nebenzimmer da, aus dem, wie Du weißt, eine Thür in den Garten und von da in den Wald führt. Wollte sie sich in dem Stübchen in ihrer Angst einschließen, oder durch die Gartenthür in den Wald fliehen, ich weiß es nicht; sie wollte sich zunächst wohl nur dem Franzosen entziehen.

Dieser rief nochmals: ‚Das Medaillon!‘ und eilte der Fliehenden nach, ehe sie die Thür des Stübchens schließen konnte.

Wir, der Vater, welcher die Augen von dem Fremden nicht abwenden konnte, und ich, standen da und wußten nicht, was wir thun sollten. Wenn wir den Franzosen anfaßten, um ihn mit Gewalt zurück zu halten, reizten wir ihn vielleicht zu Thätlichkeiten. Ein Leid konnte Marie’n nicht geschehen, da wir ja im Nothfalle zu ihrer Hülfe in der Nähe waren. Ich rief ihr nur bittend zu, sie möge zurückkommen. Sie antwortete nicht. Sie stand drüben in dem Stübchen, wie ich wohl sah, in der fernsten Ecke, da wo die Gewehre hingen. Der Franzose, der, wie gesagt, ihr nachgeeilt war, trat rasch in ihren Versteck und auf sie zu.

‚Ne me touchez pas!‘ rief ihm Marie zu unserer nicht geringen Verwunderung zu, denn sie hatte lange Zeit kein französisches Wort über ihre Zunge gebracht.

‚Ah, vous êtes Française, vraiment?‘ entgegnete der Franzose in seltsam bewegtem Tone, und sein Eifer, Marie das Medaillon abzunehmen, schien sich zu verdoppeln. Schon streckte er die Hand wieder nach demselben aus, um es zu fassen. Da griff Marie in Verzweiflung oder Zorne nach einem der neben ihr an der Wand hängenden Gewehre und hielt dasselbe dem Franzosen zitternd entgegen.

‚Um Gottes willen, Marie!‘ rief ich ihr zu und wollte zu ihr eilen, um sie zu beruhigen und zu verhüten, daß vielleicht gar ein Unglück geschehe. Als ich den Fuß bereits über die Schwelle setzte, sah ich, daß der Franzose das Gewehr gefaßt hatte, um es ihr zu entreißen, und in demselben Augenblicke erschütterte ein Schuß das Haus. Das Gewehr hatte sich entladen und der Fremde stürzte, in die Brust getroffen, lautlos zu Boden.

Alles war das Werk einer Secunde gewesen.

Wir aber standen wie versteinert vor dem Grauenhaften und konnten es nicht fassen. Der Vater, der sogleich auch herbeigeeilt war, kam zuerst zu einiger Besinnung. Er trat zu Marie, die noch immer todtenbleich und regungslos dastand, die weit aufgerissenen Augen auf das Gewehr gerichtet, das sie noch in den zitternden Händen hielt, nahm es ihr ab und hängte es an die Wand, an die Stelle, von der sie es genommen hatte. Ich aber trat zu dem Daliegenden, überzeugte mich bald, daß kein Leben mehr in ihm sei, und sagte bebend: ‚Er ist todt.‘

‚Todt?‘ wiederholte Marie entsetzt. ‚Eine Mörderin bin ich? Aber ich bin nicht schuld an seinem Tode; ich drückte das Gewehr nicht ab – ich schwöre es vor Gott und bei dem seligen Geiste meiner Mutter.‘ Sobald sie ‚Mutter‘ gesagt hatte, stürzte ihr ein Strom von Thränen aus den Augen.

‚Was aber nun?‘ fragte der Vater. ‚Was sollen wir thun? Was wird uns geschehen? Man wird den Officier vermissen und suchen. Wenn man ihn hier findet – als Leiche, sind wir Alle verloren. Wir müssen den Todten wegschaffen,‘ fuhr er zu mir gewendet fort, ‚sogleich, ehe es zu spät wird. Man kann den Schuß draußen gehört haben. Wir müssen den Leichnam hinaustragen in den Wald und dort sogleich begraben.‘

Dann öffnete er das Fenster, damit der Dampf und Geruch vom Pulver sich verziehe, und als dies geschehen war, sagte er seufzend zu mir:

‚Fasse den Todten mit an, damit wir ihn hinwegtragen können! Erst aber ein Tuch auf das Gesicht, damit ich dasselbe nicht sehe, denn es weckt Erinnerungen in mir, die sich mir immer von Neuem aufdrängen, wenn ich sie auch mit Gewalt von mir weise und mir sage, es sei eine Täuschung und müsse eine Täuschung sein.‘

Er breitete das erste beste Tuch, das er fand, über das Gesicht des Todten.

Dann trugen wir ihn hinaus in den Wald, eine ziemliche Strecke weit, gruben da ein seichtes Grab und legten ihn hinein. Später pflanzte ich die Tanne darauf, die prächtig gedieh und nun, nach fünfzig Jahren, von dem Sturme entwurzelt worden ist.

Das war jene entsetzliche, furchtbare Nacht, und daß ich nie von ihr habe reden mögen, wird Dir nun erklärlich sein.

Aber noch war nicht Alles vorüber.

Als früh der Morgen zu grauen anfing, waren wir mit unserer grausigen Arbeit zu Ende und kehrten in das Haus zurück.

Marie war in demselben zurückgeblieben, denn der Vater hatte ihr aufgetragen, als wir die Leiche forttrugen, die dicke wollene Decke zu entfernen, auf welche der Franzose gefallen war, weil auf derselben wahrscheinlich Blutflecke sich befinden würden.

Als wir eintraten, lag Marie neben der allerdings blutigen Decke. Sie hatte dieselbe aufheben und hinwegtragen wollen, als sie aber das Blut daran erblickt, das sie vergossen hatte, war sie ohnmächtig niedergesunken.

Ich trug sie in ihr Bett und bemühte mich mit dem Vater, sie wieder in’s Leben zu rufen. Es währte eine lange Zeit, ehe sich ein Zeichen rückkehrenden Lebens und Bewußtseins erkennen ließ. ‚Ich sterbe,‘ waren die ersten Worte, die sie leise zu mir sprach. Kaum waren diese Worte über ihre Lippen, so vernahmen wir starkes Trommeln aus dem Dorfe drüben. ‚Sie kommen, sie kommen!‘ fuhr Marie in Todesangst fort. ‚Sie wollen mich holen. – Laß uns fliehen!‘

Sie konnte sich kaum regen, so matt war sie. Der Vater aber, der vielleicht auch fürchtete, daß die Soldaten eine Nachsuchung nach dem Officiere in den Häusern anstellen wollten, lief rasch in das Stübchen, um die mit Blut getränkte Decke zu entfernen, die noch immer dalag und Alles verrathen konnte.

Dann trat er vor die Thür des Hauses, um sich zu überzeugen, was das Trommeln bedeute; er kam sehr bald zurück, um uns zu melden, daß die Soldaten abmarschirten. ‚Gott sei Dank!‘ sagte er, ‚wir sind gerettet.‘ Die Töne der rasselnden Trommeln entfernten sich in der That mehr und mehr; die Franzosen zogen also wirklich ab. Ein Haus aber in dem Dorfe brannte; die Bewohner weinten und rangen die Hände. Auf den Feldern draußen, wo die Franzosen gelagert, zeigte sich ein fast noch traurigeres Schauspiel. Nicht genug, daß das Getreide zertreten war, Betten, Kleider, Kochgeschirre, Ueberreste von dem geschlachteten Vieh etc. lagen wirr unter einander. Die Morgensonne dagegen schien hell und warm in die Fenster unseres Hauses; einer ihrer Strahlen traf das Gesicht Mariens, die dalag blaß wie eine Leiche. ‚Wie ist Dir?‘ fragte ich sie theilnehmend.

‚Ach!‘ entgegnete sie, ‚ich möchte fliehen, fliehen vor mir selber. Ich bin eine – Mörderin.‘

Noch im Verlaufe dieses Tages, des Tages nach der grauenvollen Nacht, wurdest Du geboren und Marie, Deine Mutter, verfiel in eine schwere Krankheit. Lange schwebte sie zwischen Tod und Leben, und nur sehr langsam erholte sie sich; aber niemals konnte sie vergessen, was geschehen war. Niemals habe ich sie wieder lachen sehen, und nur bisweilen lächelte sie, wenn sie Dich, ihr Kind, erblickte. Mit Widerwillen und Grauen, und nur, wenn sie es nicht vermeiden konnte, betrat sie das Nebenstübchen, in welchem die That geschehen war, und niemals wagte sie sich in die Nähe der Stätte im Walde, wo wir den Todten begraben hatten. In der Nacht, im Schlafe fuhr sie oft auf und rief angstvoll nach Hülfe. Der Wurm, der an ihr nagte, zehrte unablässig an dem Marke ihres Lebens und so


Hierzu der „Weihnachts-Anzeiger“, Extrablatt der „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 797. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_797.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)