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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

No. 50.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Ein Meteor.


Von E. Werber.


(Fortsetzung.)


Ich ging mit dem Manne. Der Kopf brauste mir. Ich war wie Einer, den man plötzlich aus dem Schlafe gerissen und auf die Straße gestoßen hat und der noch nicht recht zu sich gekommen und nicht weiß, was ihm geschah. Ein halbverwischter Traum schwirrt ihm vor dem Auge.

Ich ging barhaupt. Der Regen that mir wohl, und ich kam nach und nach zu mir. Ich bemerkte, daß ich nicht ging, sondern rannte. Der mir nachkeuchende Mann rief: „Herr, wenn Du so läufst, so wirst Du gleich hinsinken und dann kommen wir gar nicht vorwärts.“

Der Mann hatte Recht. Ich hielt einen Augenblick an; allein Bodiwil’s Angst, mit der er gebeten hatte: „Nicht wahr, Sie gehen schnell, schnell, schnell!?“ klang mir im Ohr, und ich fing von Neuem an, zu laufen.

„Rechts!“ rief der Mann, als der Weg sich theilte. Ich war genöthigt, langsamer zu gehen, denn der Boden wurde jetzt mehr und mehr mooricht und feucht und erschwerte schnelles Gehen. Nach und nach stieg der Pfad; wir näherten uns einem Hügel, und da war festerer Boden.

„Haben wir noch weit?“ fragte ich den Mann.

„Nein, Herr,“ antwortete er. „Siehst Du das röthliche Haus unter den Tannenbäumen auf dem Hügel? Dort ist’s, wohin wir gehen.“

Noch einige Minuten – und wir standen vor dem Hause. Es hatte ein Stockwerk mit einem einfenstrigen Aufsatz und zeichnete sich durch Nichts von den Bauernhöfen der Gegend aus. Meine Bangigkeit wuchs, als ich über die Schwelle trat.

Die Thür eines Zimmers öffnete sich leise, und eine ältliche Frau in der Landestracht schaute mich mit bangen, verweinten Augen an. Sie schien Alles zu verstehen, noch ehe ich gesprochen hatte.

„Warum kommt er nicht selbst?“ fragte sie.

Ich sagte ihr die Ursache und bat, zu der Kranken geführt zu werden.

„Gleich,“ sprach sie, „ich will das Fräulein nur erst vorbereiten.“

Nach einigen Secunden kam sie zurück und sagte: „Komm’, Herr! Sie will Dich sehen.“

Ich folgte der Frau; das Herz hämmerte mir in der Brust. Sie führte mich durch eine kleine Stube in eine größere, wo zwei Dinge mir in die Augen fielen: ein violetter Damastvorhang und eine auf einem Divan davor liegende weibliche Gestalt, in einen weißen Shawl gehüllt und mit einer türkischen Decke bis über die Kniee zugedeckt. Sie hielt beide Hände vor’s Gesicht, feine, durchsichtige Hände, und zwischen den Fingern quollen reichlich Thränen hervor.

Ich stand erschüttert. Ihre Hände sanken herab ich – empfand, als ich ihr Gesicht sah, einen elektrischen Stoß, wie ich ihn beim Anblick von Bodiwil’s Bildern empfunden hatte – es war das Gesicht der Sphinx, die über Bodiwil’s Bette hing. –

Sie streckte eine Hand nach mir aus und sagte mit schwacher Stimme: „Sie sind sein Freund?“

Ich beugte mich zu ihr nieder und küßte ihre Hand. „Allmächtiger Gott!“ rief es in mir, „soll dieses Geschöpf sterben?“

„Wird Bodiwil bald kommen?“ fragte sie.

Ich rang nach Fassung und sagte: „Vielleicht gleich, längstens aber in einer halben Stunde.“

„Ich fühle mich ein wenig besser,“ sagte sie seufzend. „Vielleicht kann ich noch ein paar Tage leben. Sagen Sie Bodiwil nicht, daß ich geweint habe! Er könnte glauben, ich habe Furcht, und ich weine doch nur, weil ich von ihm gehen muß.“ Sie trocknete die Thränen, die zitternd auf ihre Wangen herabtröpfelten.

Das Herz wollte mir brechen. „Kann ich nichts für Sie thun?“ fragte ich.

„Doch!“ sagte sie, und wies auf einen Stuhl, welchen die Frau neben den Divan gestellt hatte.

„Ich bitte, ich beschwöre Sie,“ sprach sie, „verlassen Sie Bodiwil nicht, wenn ich todt bin; nicht bei Tag und nicht bei Nacht! Zwingen Sie ihn zur Arbeit! Er darf der Kunst nicht verloren gehen. Reißen Sie ihn aus der Einsamkeit, nehmen Sie ihn mit nach Deutschland und wecken Sie seinen Ehrgeiz! Eine Intelligenz, wie die seinige, gehört der Welt und nicht dem Kloster. Müßte ich nicht sterben, so wäre es meine Aufgabe, ihn zum Ruhme zu führen; aber bei allem guten Willen bin ich ohnmächtig wie ein Kind, denn ich bin in der Gewalt des Todes.“

Ich wagte, ihr zu erwidern: „Verlieren Sie den Muth nicht! So jung, wie Sie sind, stirbt man nicht so leicht.“

„Nein,“ sagte sie wehmüthig, „man stirbt nicht leicht, allein man stirbt darum nicht weniger sicher.“

Sie schwieg erschöpft und schloß die Augen. Nach einiger

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 799. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_799.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)