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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

No. 51.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Ein Meteor.


Von E. Werber.


(Schluß.)


„Mariana sagte dies in einem so natürlichen Tone voraus, daß ich erschrak. Ich wollte es sie nicht merken lassen und rief lächelnd: ‚Wie können Sie nur eine so krankhafte Idee haben?‘ Da sie mir nicht antwortete, drang ich in sie und fragte, ob sie denn noch immer am Fieber leide.

‚Es ist nicht des Fiebers wegen,‘ sagte sie. ‚Vielleicht hilft das zum Ende, allein ich werde nicht eigentlich daran sterben.‘

Ich legte Pinsel und Palette nieder und sah Marianen voll und ernst in’s Auge. ‚Sagen Sie mir, was es ist und wie Sie zu diesem unseligen Traume gekommen sind!‘ bat ich.

Sie hörte auf, zu malen und sagte: ‚Als ich fünfzehn Jahre alt war und wieder einen starken Fieberanfall hatte, schickte mich mein Vater mit der Frau, die meine Amme gewesen war, in die Berge. Es lagerte dort eben eine Bande Zigeuner. Das malerische Treiben dieser Leute hat stets einen großen Reiz für mich gehabt; ich ging daher oft mit Christina, meiner Amme, auf’s Feld, wo die Zigeuner ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Eines Tages, als wir wieder die Zigeuner besuchten und ich Nüsse und Trauben unter die Kinder vertheilte, nahm Christina eine alte Frau aus der Bande zur Seite und sprach leise mit ihr. Die Frau ging mit uns nach Hause; meine Amme wollte, wie sie mir sagte, ihr alte Leinwand geben. Ich war nach meinen Spaziergängen immer so ermüdet, daß ich mich schlafen legen mußte. Auch diesmal legte ich, zu Hause angekommen, mich auf’s Bett, um zu schlafen. Ich schloß meine Augen; allein ich schlief nicht ein. Mit einer Art von Wohlbehagen hörte ich die Schwalben vor den Fenstern zwitschern und die zwei Frauen im Zimmer nebenan leise sprechen, Ich hörte auch eine Schieblade knarren und dachte bei mir: jetzt giebt Christina der Zigeunerin die Leinwand. Dann hörte ich das Gluckern einer Flüssigkeit und dachte: jetzt giebt Christina der Zigeunerin ein Glas Wein. Ich war vollständig wach, allein ich konnte mich nicht rühren, nicht einmal die Augen öffnen, und meine Gedanken gingen langsam und wie in der Dämmerung. Nach einiger Zeit öffnete sich die Thür meines Zimmers, und leise Schritte näherten sich meinem Bette. Ich fühlte, daß Christina sich über mich beugte; dann hörte ich sie flüstern: ‚Sie schläft.‘ Und nun nahm sie vorsichtig meinen Arm, der an der Seite des Bettes herabhing, und drehte ihn langsam, bis die innere Fläche meiner Hand nach oben lag. Ich fühlte instinctmäßig, daß sie meine Hand der Zigeunerin hinhielt und daß mir diese daraus wahrsagen werde. Kühle Finger, welche nicht die Christina’s waren, legten sich leise auf die meinigen und drückten sie sanft herab. Dann sagte die Zigeunerin nach einer Weile: ‚Armes Kind! Die Lebenslinie ist durchschnitten. Das Kind stirbt in seinem zwanzigsten Jahre an einer Wunde in der Brust, an einer im Herzen und an seinen eigenen Gedanken.‘ ‚Jesus Christus!‘ stöhnte Christina. Als die Frauen hinausgegangen waren, richtete ich mich gewaltsam auf, um mich zu überzeugen, daß ich wachte. Ich hörte Christina schluchzen und sah durch’s Fenster die Zigeunerin dem Felde zuschreiten.‘

Hier schwieg Mariana und malte ruhig weiter. Ich war nicht abergläubisch und ich hatte die Ueberzeugung, daß Mariana es auch nicht war. Hätte ein anderes Mädchen mir diese Geschichte erzählt, so würde ich nur abgeschmackten Aberglauben oder sentimentale Coquetterie darin gefunden haben; allein daß die ernste, verständige, groß denkende Mariana dieser Voraussage unbedingten Glauben schenkte, dies machte mich schauern, ich gestehe es. Ich fragte sie, ob sie die Zigeunerin später nicht wieder gesehen habe.

Sie antwortete: ‚Doch; sie wollte mir aber nichts Genaueres sagen. Ich bin gefaßt, zu sterben. Manchmal thut es mir leid, daß ich so jung aus dem Leben gehen soll; allein ich sage mir dann, daß nicht die Länge des Lebens das Leben ausmacht. Auch bin ich Niemand auf dieser Erde unentbehrlich.‘

Ich wollte ‚doch!‘ rufen – aber ich bezwang mich und sagte: ‚Wie? und Ihr Bruder?‘

‚Mein Bruder!‘ rief sie. ‚Mein Bruder ist ein finsterer Mensch, dem ich zur Last bin. Ich wohne viel mehr in seinem Gewissen, als in seinem Herzen.‘

‚Weiß Ihr Bruder, daß ich Sie unterrichte?‘ fragte ich.

‚Nein,‘ antwortete sie fest.

‚Soll er nichts davon wissen?‘ fragte ich wieder.

Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: ‚Es ist besser, daß er es nicht weiß.‘

Ich fragte sie, ob er die Stiftsherren von Constantin noch immer hasse. Sie blickte mich groß an und erwiderte: ‚Der Haß eines Dalmatiers stirbt nicht; er vererbt sich bis in’s siebente Glied.‘

Als sie nach diesem Gespräche aufstand, um zu gehen, kam mir ein Gedanke. Die Art, nach welcher die Zigeuner aus der Hand wahrsagen, war mir bekannt; ich wollte Mariana’s Hand, scheinbar zum Scherze, betrachten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_815.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)