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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

gewesen war. Er verspielte es in einer Nacht, woher das spanische Sprichwort: „Juega el sol antes que amanezca“ (die Sonne verspielen, bevor sie aufgegangen).

Symbolisirt diese Spielgeschichte nicht so zu sagen die gesammte Geschichte der spanischen Conquista in der Neuen Welt? War diese Conquista nicht von A bis Z ein verwegenes, leidenschaftliches Hazardspiel? Und dennoch, wie sehr man vom Standpunkte der Moral aus die ganze transatlantische Kolonisationsweise der Spanier in Amerika verurtheilen mag und muß, gebührt derselben die laute Anerkennung, daß sie ein kulturgeschichtliches Motiv von unberechenbarer Triebkraft und Wirksamkeit gewesen ist. Die Weltgeschichte arbeitet ja nicht mit Moral, sondern mit Nothwendigkeiten und Interessen. Diese werden durch die menschlichen Leidenschaften, und zwar durch die bösen wie durch die guten, flüssig und für die große, das Dasein der Menschen beseelende Entwickelungsidee nutzbar gemacht. Es ist so eine geschichtegesetzliche Nothwendigkeit gewesen, daß Amerika gefunden, erobert, besiedelt und die eingeborene Bewohnerschaft unterjocht oder geradezu ausgerottet werden mußte, damit der Europäismus seine Kulturherrschaft über den Erdball antreten und feststellen könnte. Da half und hilft kein sentimentales Mitleid mit dem „Letzten der Mohikaner“. Schon jetzt läßt sich mit so zu sagen mathematischer Bestimmtheit voraussehen, wann die rothhäutige Rasse ein von der Weltgeschichte gänzlich verarbeiteter und beseitigter Völkerstoff sein wird.

Die Frevel und Gräuel der spanischen Eroberung von Mittel- und Südamerika häufen sich zu einem Berge, welcher den Orizaba, den Popokatepetl, den Chimborasso überragt. Ganz recht. Aber es war doch diese spanische Kolonisationsweise, dieser grausame „Raubbau“, welche und welcher es ermöglichten, jenen gewaltigen Strom von Edelmetallen nach Europa hinüberzuleiten, der zweifelsohne eine der bedeutsamsten volkswirthschaftlichen Revolutionen zuwegebrachte. Denn dieses rasche und massenhafte Zuströmen von Gold und Silber vermehrte höchst beträchtlich das europäische Kapital, welches fortan der Landwirthschaft, der gewerblichen Hervorbringung und der Handelsthätigkeit eine bislang nicht einmal geahnte Regsamkeit, Vielseitigkeit und Ausbreitung zu verleihen vermochte. Wie aber das dem Ansehen, der Geltung und Macht des Bürgerthums, also dem eigentlichen Kulturträger der Neuzeit, zu gute kommen mußte, ist klar. Es fällt auch auf und steht einem welthistorisch-mephistophelischen Sarkasmus gleich, daß die „ritterlichen“, von den Anschauungen und Stimmungen der mittelalterlich-feudalen Welt ganz erfüllten Spanier mittels ihrer Conquista in der angedeuteten Weise den Ruin des Feudalismus mitherbeiführen mußten.

Doch auch die Herren Moralisten sollen am Ende dieser Historie nicht leer ausgehen. Bleibt ihnen doch der süße Trost, derselben als Nutzanwendung den Wahrspruch des unglücklichen russischen Dichters Relejew: „Gott heißt Vergeltung in der Weltgeschichte“ anhängen zu können. In Wahrheit, die von den Spaniern in der Neuen Welt begangenen Sünden sind schwer auf Spanien zurückgefallen. Denn für dieses Land sind die blendenden, die märchenhaften Erfolge seiner Söhne in Amerika mit der Zeit zweifelsohne zu großem Unheile ausgeschlagen. Das kam daher, daß Spanien, im Besitze unermeßlicher Länderstrecken jenseits des Oceans, im Besitze der Goldlager Peru’s und der Silbergruben Mexiko’s, das moderne Evangelium der Arbeit nicht vernehmen wollte und nicht zu bedürfen glaubte.

Auch auf die Conquistadoren selbst ist die Vergeltung schwer gefallen. Am schwersten auf die von Peru. Sie haben sich in mörderischen Händeln gegenseitig aufgerieben. Fast alle vorragenden Theilhaber an dem Unternehmen gegen das Inka-Reich sind eines gewaltsamen Todes gestorben. So auch der zum Marques erhobene Statthalter Francisko Pizarro selbst. Am 26. Juni von 1541 ist er von einer Rotte zu seinem Verderben verschworener Spanier in seinem Palaste in der von ihm 1535 gegründeten Stadt Lima überfallen und niedergemacht worden.

Mitten durch das rothe Meer, durch ein Blutmeer geht der ewige Leidens- und Triumphzug der Menschheit. Vorwärts!!!




Ein Häckerlingsschneider als Apostel.


Culturbild aus unserem Jahrhundert.


Im Königreiche Sachsen liegt zwischen Leipzig und Dresden die freundliche Stadt Leisnig. Selbstverständlich markire ich die Lage des Ortes nicht für die sächsischen und deutschen, sondern für die Leser der „Gartenlaube“ weit und breit in fernen Landen und jenseits der Meere.

Seit die Leipzig-Dresdener Eisenbahn auch die Stadt Leisnig berührt, wird dieselbe jährlich von Tausenden besucht, die sich hier an der Schönheit der Natur erquicken. Und wenn nun auch an Wochentagen die Wagenzüge nicht allzulang sind – an Sonn- und Festtagen vom Frühlinge bis zum Spätherbste ist das doch anders. Die eiserne Schlange des öffentlichen Verkehrs, welche sich dampfend durch die weite Welt windet, erscheint dann auch hier als eine bedeutend gewachsene, langgestreckte, nicht selten als Riesenschlange.

Alle die Tausende, die sie herbeiträgt, erfreuen sich nun der reizenden Lage der Stadt; sie besuchen Garten und Park des Dr. Mirus, dessen Kunstsinn diese Plätze von Jahr zu Jahr verschönert und dessen Humanität Jedem den Eintritt in dieselben gestattet, ohne erst eine Begrüßung oder Bitte darum zu verlangen. Kaum zweihundert Schritte von diesem Garten und Park thürmt sich das alte Schloß Mildenstein auf; da besteigt man die Höhe des Steinriesen, einer altersgrauen Warte, und hält dort belohnende Umschau. Ganz in der Nähe streckt sich der Schloßberg mit seinen Anlagen und Fernsichten hin; an der Tiefseite des Schloßberges aber zieht sich in aufsteigender Schlucht eine uralte Vorstadt herauf, wahrhaft schweizerartig, da an manchen Stellen Häuser und Häuslein an Felsen geklebt sind und in eigenthümlichem Holzwerk, kleinen Fenstern und bemoosten Schindeldächern Wahrzeichen vergangener Jahrhunderte aufweisen.

Blicken wir nach der andern Seite der Stadt. Da wandern die Sonntagsgäste von der hochgelegenen Straße hinab durch die hübschen, reinlichen Anlagen, unter den Obstbäumen hin, an grünen Ruheplätzen vorbei, in das von der klaren Mulde durchrauschte Thal. Sie nehmen ihren Weg nach dem prächtigen Eichberge oder auch weiter hinauf bis zur Meylust, welche uns durch Axt und Spaten von dem sinnigen Waldfreunde und Oberförster Mey aufgeschlossen wurde. Hier führt der Bergweg zunächst in eine majestätische Vorhalle, aufgebaut aus mehr als hundert schlanken, kerzengeraden, alten Tannen, Prachtbäumen von seltener Höhe. – Aus dieser grünen Tannenhalle, die man mit Recht auch einen lebendigen Säulensaal, einen hochgewölbten freien Dom nennen könnte, geht’s dann zu den übrigen herrlichen Plätzen, geschaffen durch Wald und Fels, gastlich und sauber gemacht durch Menschenhand. Von den meisten dieser Plätze hat man eine erquickende Aussicht. Bald blickt das Auge hinab in das reizende Muldenthal, bald hinüber über das Thal auf die bewaldeten Uferhänge und fruchtbaren Felder, bald wieder hinab auf die langgestreckten, saftgrünen Wiesen des lieblichen Scheergrundes oder auf das einst dunkle und faulenzende, jetzt hell-freundliche und fleißig arbeitende Kloster-Buch.

Mit Ausnahme des zuletzt genannten Punktes sieht man von fast allen Höhen ein Kirchlein, welches drüben über der Mulde und hinter der bewaldeten Uferwandung emporragt. Die meisten von den Besuchern Leisnigs haben das ferne Kirchlein gesehen und des landschaftlichen Bildes sich erfreut; Keiner aber der Fremden wußte und weiß, welch eine grausige That sich dort einst vollzog. Auch Wenige in der Stadt und Umgegend selbst wissen davon, sie müßten denn alt sein, so alt wie ich etwa. Und wenn Manche auch davon wissen, so haben es doch Wenige nur gesehen mit eigenen Augen, wie ich es sah. So will ich denn im Folgenden auf Grund authentischer Actenstücke und aus meinen eigenen Erinnerungen erzählen, zu welchen Ausschreitungen sich zu Anfang dieses Jahrhunderts einige religiöse Fanatiker hinreißen ließen, irregeführt durch die verwirrten Vermahnungen eines Mannes, der sich das Ansehen eines Apostels gab.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 823. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_823.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)