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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

ihre Schätze den Priestern und Armen und verbannen sich in den wilden Wald Dandaka. Sein Vater stirbt aus Gram, nachdem er zuvor erkannt, es sei das die gerechte Strafe einer Jugendsünde; denn er hatte einst durch einen Fehlschuß statt des Wildes den Sohn eines frommen Büßers getödtet. Auch Bharata, der neue König, ist lauter Großmuth und will Rama auf den Thron zurückholen, damit die Sünde seiner Mutter ihm verziehen werde. Rama verzeiht, bleibt aber in der einmal gelobten fünfzehnjährigen Verbannung. Mit Indra’s Schwert und Bogen tödtet er vierzehntausend Riesen. Da entführt ihm Ravana von Lanka (Ceylon), der Riesenkönig, seine Gemahlin Sita. Rama jedoch verbündet sich mit den Affen. Hanuman, der Affenkönig, läßt ihm von ungeheuern Felsblöcken eine Brücke schlagen nach der Insel Lanka. Auf ihr begegnen einander in ihren Streitwagen Rama und der Riesenkönig. Die Erde erbebt von ihrem Zusammenstoße; sieben Tage dauert der Kampf. Endlich fällt der Riese; die befreite Sita beweist durch die Feuerprobe, daß sie treu geblieben, und kehrt mit dem Gatten, nachdem die fünfzehn Jahre verflossen, nach Ajodhja zurück, wo Rama unter hundert Pferdeopfern den Thron besteigt, um nun lange Jahre in Glück und Frieden zu herrschen.

Als geschichtlicher Vorgang liegt dieser monströsen Dichtung zu Grunde die Eroberung der Halbinsel Dekhan und der Insel Ceylon. Da „Sita“ die Furche der Pflugschar bedeutet, ist die Entführung und Wiederbefreiung der Gattin Rama’s wohl anzusehen als der allegorische Ausdruck dafür, daß jene Eroberung durch Einführung des Ackerbaues bewirkt und durch dessen Sicherung gegen die Elemente und die wilden Urbewohner vollendet wurde. Alles das tritt aber schattenhaft zurück gegen die grell hervorleuchtende Tendenz: den letzten Rest des ehrbegierigen Kriegerstolzes und der dem Leben selbst zugewendeten Thatenlust der Helden des Mahabharata zur Werthlosigkeit hinabzudrücken gegenüber der frommen Entsagung und dem duldenden Gehorsam gegen die Priesterlehre. Rama ist nicht mehr ein Kriegs-, sondern ein Glaubensheld und bußesüchtiger Märtyrer. Nicht Muth und Kraft, sondern Wunderwaffen und Zauberei verschaffen ihm Sieg über fabelhafte Unholde. Die Poesie ist bereits der krankhaften Sucht nach maßloser Ungeheuerlichkeit verfallen. Schließlich aber erweisen sich alle diese Kämpfe und Leiden in der Königsfamilie nur als die Buße für das unbeabsichtigte Vergehen gegen ein Pfaffensöhnlein. –

Die ehemaligen „Vorbeter“ (Brahmanas) hatten schon während der Kriege an Einfluß gewonnen; denn der Sieg galt für abhängig von der rechten Anrufung der Götter. Diesen Einfluß steigerte die Muße des Friedens. Nahrung lieferte das üppige Land in Fülle und was der Boden an Arbeit verlangte, geschah zumeist durch unterjochte Stämme, die man hinabgedrückt hatte zu verachteten Kasten. Die große Mehrheit des herrschenden Stammes durfte sich beschaulichem Nichtsthun hingeben und fand ihre Hauptunterhaltung im Anhören einer allerunterthänigsten und bigotten Poesie, welche immer schärfer ausdestillirt wurde für den beabsichtigten Giftrausch. Die Gaben der Erde waren im heißen Gangeslande, wie noch heutigen Tages, weit mehr vom Wetter, in der Auffassung des Volkes also von den Göttern, abhängig, als vom Fleiße des Menschen. So wurde die Gewogenheit der Götter zur wichtigsten Frage, Gebet und Opfer zur vornehmsten Thätigkeit. Hatte weiland jedem Familienhaupte das Recht des Opfers zugestanden, so galt es jetzt für einen Frevel von äußerster Verderblichkeit, die Götter anzurufen ohne die genaueste Kenntniß der inzwischen bis in’s Unermeßliche vermehrten Ceremonien und Formeln. Im erblichen Besitze derselben waren nur die Priesterfamilien, und ihre Behauptung, vermöge dieser Zaubersprüche die Macht der Götter ihrem Willen gehorsam machen zu können, fand allgemeinen Glauben. So mußten sich schließlich die Brahmanen selbst für Wesen von höherer Art halten.

Diesen ihren eigenen Dünkel verwandelten sie in eine neue allmächtige Gottheit. Wie ist es möglich, fragten sie, daß unsere Gebete die Götter zwingen? Der erlogene, aber für die Praxis im verkümmerten Gehirne des Volkes zur Wahrheit gewordene Vordersatz erlaubte nur einen Schluß, und diesen zogen sie mit unerschrockener Frechheit: es giebt einen Gott, der stärker ist als die andern alle zusammen und sie zwingen kann, unsern Sprüchen zu gehorchen. Sie nannten ihn Brahmanaspati, das ist den Herrn des Gebetes, und so wurden sie die einzigen Priester welche nicht sich nach ihrem Gotte, sondern ihren Gott nach sich benannt haben.

Bisher waren die Natur und ihre Geschöpfe nichts gewesen als das Theater und die Marionetten der Götter. Nun erschien sie wie mit einem Schlage verwandelt. Die Berge mit ihren Firnkronen und Schneemänteln, die wasserreichen Ströme mit ihren gewaltigen Ueberfluthungen, die unermeßlich üppige und farbensatte Vegetation des Tropenlandes, Orkane und Gewitter von beispielloser Furchtbarkeit, eine wundersame vielgestaltige und bunte Thierwelt, hier die kolossalen Elephanten, Nashörner, Krokodile und ringelnden Riesenschlangen, dort in unzähligen Arten und unendlichen Schwärmen die Vögel im Federschmucke von juwelischer Pracht; alles dies erschien jetzt als der sichtbare Leib, als die millionenfach wechselnde Gestaltung eines Grundwesens, der unsichtbaren Weltseele. Brahma – so wurde der Name verkürzt – stand nicht über und außer der Natur, sondern athmete in ihr als ihr eigentliches Leben. Werk und Werkmeister zugleich. Sämmtliche Wesen bilden eine Stufenleiter von ihm hinunter bis zum Steine, und von diesem hinauf bis zur unterschiedslosen Einheit mit dem Allgeiste.

Je nach seinen frühern Thaten, mit Gefühl für Qual und Lust
Bleibt im vielgestalt’gen Dunkel alles sich des Ziels bewußt.
Aus der Gottheit durch den Menschen, Thier und Pflanze bis zum Stein
Sinkt es nieder zum Verderben hier im schreckenvollen Sein,
Um, in tausend von Geburten ringend nach der Wiederkehr,
Endlich wieder zu verrinnen in dem einen Gottesmeer.

So erhaben diese Vorstellung anmuthet, die Folgen ihrer Anwendung auf das Leben waren furchtbar. Nun galt der Zustand, den das Volk angenommen in einem Moment der ewig umschmelzenden Geschichte, für einen Zustand Gottes und sollte als geheiligte Verfassung erstarren für die Ewigkeit. Die Stände und ihr Beruf wurden unantastbare Schranken der Weltordnung; das Menschengeschlecht bestand aus zunächst viererlei Arten von Geschöpfen, mindestens eben so sehr von einander verschieden wie etwa Pferd und Esel. Die Geschichte sollte still stehen, und bald that sie es wirklich – für die Indier.

Vollendet haben die Brahmanen die Unterjochung des Volkes durch ihre Lehre von den Schicksalen der Seele nach dem Tode. Sie lehrten Unsterblichkeit als Strafe, Aufhören gesonderter Fortdauer als Belohnung. Die Unheiligen können selbst der Umkehr zur Richtung nach Brahma hin erst würdig werden durch vieltausendjährige Pein in einer heißen Hölle. Da werden ihnen die Köpfe täglich mit Hämmern eingeschlagen; auf glühendem Eisen schreitend müssen sie lebendige Kohlen verschlucken und geschmolzenes Kupfer trinken. Nach Verbüßung dieser Strafen begann die neue Wanderung der Seele, die ganze Stufenleiter des Thierreichs empor, und ein umfangreiches Gesetz bestimmt genau nach den vormaligen Sünden die Zahl und Art der Wiedergeburten als Wurm, als Schlange, Krokodil, Ratte etc., bis sie wieder anlangt beim Dasein als Mensch der niedrigsten Kaste, von wo sie es, unter tausendfach größerer Wahrscheinlichkeit des Rückfalls, zuletzt wieder bis zum Brahmanen bringen kann, um endlich nach richtigen Bußübungen als unterschiedsloser Tropfen in Brahma selbst zu zerfließen. Die Gottheit ist ein thatenloses Wesen, nur erfüllt vom einsamen Wohlgefühle ihrer unvermischten Reinheit. Aber sie träumt einen bösen Traum, und was sie träumt, wird wirklich als die sichtbare Schöpfung. Alles Dasein ist Verbannung und Verfinsterung, zu der sie sich in freiwilliger Selbstqual verurtheilt. Das höchste Ziel des Strebens ist, so schnell wie möglich wieder abgedampft zu werden zu jenem unvermischten Spiritus. Dem sittlichen Fortschritte des Menschen ist der Nerv abgeschnitten. Sein Gott hat nichts mehr von einem Ideale menschlicher Vollkommenheit, dessen Freiheit der Mensch durch seine Kraft, dessen Schönheit er durch seine Kunst, dessen Allwissenheit er durch seine Wissenschaft, dessen Allmacht er durch arbeitende Bewältigung der Natur, dessen Allgüte und Gerechtigkeit er durch Erziehung und Rechtsordnung in stetiger Annäherung nachzuahmen hätte. Sie ist nur noch ein erhabenes, aber inhaltloses Nichts jenseits alles Stoffes, zu dem der Mensch nur gelangen kann durch gedankenloses Starren in’s Leere. Das Ziel, das sie ihm vorschreibt, ist die leibliche und geistige Selbstvernichtung.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 837. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_837.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)