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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

immer auf. Anfangs das starre, dunkelgläubige Lesen in Katechismus und Bibel, dann das Hören davon und die Belehrung in Schule und Kirche: das macht, wenn die Vernunft nicht dagegen arbeitet, den Pietisten fertig. Aus dem Pietisten – das lehrt tausendfach die Erfahrung – entpuppt sich leicht der Mucker; die Muckerei erzeugt den Fanatismus, und nun ist’s ein kleiner Schritt nur zum völligen religiösen Wahnsinn. Also die Grundlage, die dunkle Schule und die dunkle Kirche, hinweg – und selten nur wird ein Pietist aufwachsen. Mit dem Pietismus fallen die weiteren Nächte.

In solch eine Nacht schauten wir durch die obigen Mittheilungen. Wäre die, welche im Jahre 1818 das Muldenthal umschattete, die letzte gewesen! So ist’s nicht. Im Jahre 1819 zog sie schaurig durch den Canton Zürich in der Schweiz. Der Anfang war Pietismus, das Ende religiöser Wahnsinn mit blutigem Verbrechen. Auch dort lag die Nacht auf einer wohlhabenden Bauernfamilie; zur „Ueberwindung des Teufels“ kreuzigte Margarethe Peter ihre Schwester und ließ sich dann selbst an’s Kreuz schlagen. Bei dem Anschauen dieser zwei Leichen riefen andere Tolle aus: „O, könnten wir auch sterben, wie diese Heiligen!“ – Im Jahre 1855 vollzog sich eine gleiche Blutarbeit in Chemnitz in Sachsen. Da war es der Schuhmacher Vogt, der den Verein „Die heiligen Männer“ stiftete. Zwei Mütter, die zu dem Verein gehörten, wurden beredet, ihre kranken Kinder abzuschlachten, weil sie „vom Teufel besessen wären“. – Hunderte von Beispielen ließen sich aufführen. Man lese darüber den geistreichen Culturhistoriker Johannes Scherr!

In allen Ländern gab und giebt es blutige Thaten des „religiösen Wahnsinns“, auch, wie die „Gartenlaube“ erst neulich mittheilte, gräßliche Stücke in Amerika. – Und immer, in alter und neuer Zeit, stiegen die pietistischen Nächte, die frommen Seuchen, der ganze religiöse Wahnsinn aus der altkirchlichen Pandorabüchse. Tausende von Beweisen giebt es dafür.

Aber verzagen wir nicht! Lüge und Wahn werden auch auf diesem Felde weichen. Tüchtige Männer heben ja jetzt fleißig das Erz der Wahrheit aus den Schächten der Naturwissenschaft; tüchtige Männer sitzen an den Schmelzöfen; tüchtige Männer prägen die gewonnenen Goldbarren zu Münzen, und rolliren diese Münzen nur erst frei in den Volksschulen, dann – zehn Jahre kaum, und das ganze Volk wird mehr und mehr die Wahrheit erkennen.

Ludwig Würkert.





Einsam auf dem Throne.


Nichts auf der Welt hat beharrlichere Feinde und unverdrossenere Verfolger, als das Geheimniß. Alle Reize der verbotenen Frucht gesellen sich zu dem verlockenden inneren Drange, absichtliches Dunkel mit der Leuchte zu beschleichen, Verborgenes zu enthüllen, Unbekanntes auf den Markt zu ziehen. Noch gesteigert wird aber diese Spürlust nach dem Geheimniß in dem Grade, als es in höheren Regionen spielt, je dichter sein Schleier ist und je sorglicher er zusammengehalten wird. Ein solches Geheimniß ist nur in den seltensten und eben darum denkwürdigen Fällen für immer zu retten; in der Regel ist seine Enthüllung nur eine Frage der Zeit, und sehr häufig hebt ein Zufall den dichtesten Schleier vor Augen, die nach nichts weniger, als derlei Geheimnissen, ausgelugt haben.

Letzterer Fall ist der unsere wenigstens für die ersten Blicke auf den uns vorliegenden Gegenstand.

Die Schneewölfe leuchteten trotz der nahenden Lenzsonne noch an den Hügeln meiner mitteldeutschen Heimath, als der Besuch eines von einer Geschäftsreise heimkehrenden Freundes mich aus meiner Winterruhe aufstörte. Er hatte die Alpen in ihrer Eispracht gesehen und erging sich über die Herrlichkeit der Gebirgsnatur unter dem starren Schmucke des Winters und über die Urgemüthlichkeit des Lebens in den zur Sommerszeit von den „Saison“-Gästen überschwemmten Gebirgsorten in so verlockenden Schilderungen, daß ich hastig fragte: „Wäre wohl noch jetzt Etwas von der Pracht zu erhaschen?“

„Ei, satt und genug,“ antwortete der Freund, „nur dürfen Sie sich unterwegs nicht von etwaigen Sehenswürdigkeiten aufhalten lassen.“

Sofort wurde zur Fahrt gerüstet, ein lieber Verwandter, F. M. in München, telegraphisch und Freund S., der Künstler und Alpenkenner, mündlich zur Mitfahrt aufgefordert, und fort ging’s schon am nächsten Morgen. In Augsburg trafen wir mit F. M. zusammen und hier setzte die nun volle Reisegesellschaft fest, über Kempten, Füßen, Hohenschwangau und Reutte bis Partenkirchen vorzudringen.

Das Glück war mit uns auf die Reise gegangen. Wir kamen zur Abendzeit wohlgeborgen im „Mohr“ zu Füßen an und hatten schon einige Stunden bei Licht gesessen, als S., von einem kurzen Ausgang zurückkommend, uns von der wundervollen Gebirgslandschaft im Mondenscheine so viel vorschwärmte, daß wir seiner Verführung zu einer so späten Lustwandlung im Freien nicht widerstehen konnten. Mit Sturmschritt ging’s in die Mondnacht hinein. Es schlug zehn Uhr im Städtchen, als S. uns auf der Lechbrücke zum Stillstand brachte. – Ja, das war ein Bild, ein Winterpracht- und Mondnacht-Panorama, das allein die ganze Reise lohnte. Aber wer will da mit Schildern und Beschreiben anfangen! Selbst wer das Sommerbild dieses Gebirgswinkels vor Augen hatte, kann es mit der Phantasie allein nicht zu diesem Winterprachtstück umwandeln. Dort entzückt jährlich Tausende von Augen das Grün im Sonnenglanz – und hier ist’s das Weiß im Mondenstrahl, aber welche Mannigfaltigkeit von glitzernden Lichtern bis zum tiefsten Schattenschwarz ist über Thal und Wälder ausgegossen bis zu den aufstarrenden Zackenkronen der Felskolosse am bald scharf abgegrenzten, bald durch Wolkengebilde verschwimmenden Nachthimmel! Unsere Herzen schwärmten so lange durch die Augen in der überraschenden Herrlichkeit, bis die Füße beim Kopf anfragten, ob sie noch nicht kalt genug seien, um wieder von der Stelle zu kommen.

Voller Lust schritten wir drauf los, waren bald vom reif- und schneebedeckten, wie verzuckert glänzenden Parkwald Hohenschwangaus umfangen und wandelten hier bald zwischen dichtem Gehölz, bald an Walddurchschnitten und von den silberglänzenden Bäumen eingerahmten Durchblicken und Fernsichten dahin. Schon waren wir dem Schlosse so nahe, daß wir es bei einer Wegbiegung bis zum Erkennen der einzelnen Bautheile deutlich vor uns sahen, da wurden alle Augen und Ohren plötzlich nach einer Richtung hingelenkt. Sprühendes Fackellicht und Rossestampfen kam eilends uns entgegen.

„Das ist der König,“ rief S. „Geschwind hinter die Bäume!“

Meine Frage: „Na, warum denn?“ kam zu spät, Jeder hatte schon seinen bergenden Stamm und auch ich suchte gedeckte Stellung. Abermals hatte das Glück uns geführt. Wir standen im Winkel einer Biegung, die uns auf längere Strecke nach beiden Seiten hin den Weg zu überschauen gestattete.

Noch eine Zeitlang leuchten die Fackelflammen blitzartig zwischen den Stämmen und dem dichten Unterholze der Waldung her. Jetzt bricht es hervor; die Fackelträger sind Vorreiter; die grelle Beleuchtung spielt auf bortenreicher Livrée. Hutform und Kleiderschnitt gehören vergangener Zeit, gehören den Tagen Ludwig’s des Vierzehnten an. Hinter ihnen biegt ein Viergespann von weißen Rossen in goldstrotzendem Geschirre auf die Bahn herein, auf den Sattelpferden Reiter in derselben schimmernden Tracht. Hinter ihnen ist, sie Alle hoch überragend, eine goldene Krone, wie in der Luft schwebend, sichtbar. Je näher, je prachtvoller wird das Bild. Amoretten sind es, die an und zwischen den zu einem hohen Bogen emporsteigenden Schlittenkufen die Abzeichen des Königthums tragen; wir erkennen deutlich Scepter, Reichsapfel und Schwert; bald wird auch die Muschelform des Schlittenkastens sichtbar; er ist auf Tritonen gestützt; eine Nereide hält die Schlittendecke, alles goldstrahlend – und im Schlitten – von zwei Laternen hell beleuchtet, in Pelze gehüllt, ganz allein, sitzt der König. Gar zu rasch rennen die Rosse; fest halten möchte man die feenhafte Erscheinung, denn nicht der geringste Schmuck derselben ist das Antlitz des in sich gekehrten Mannes, der nur der schweigenden Nacht einen solchen Anblick

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 840. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_840.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)