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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Der Minister, durch die ungewöhnliche Erscheinung erschreckt, der wohl auch die große, das Patent enthaltende, blecherne Büchse für eine Mordwaffe hielt und unwillkürlich an Kotzebue’s Ende dachte, concentrirte sich rückwärts mit einem gewaltigen Sprunge hinter seinen Schreibtisch, und rief um Hülfe, während die ihn schreckende Erscheinung in eintöniger, ganz leidenschaftsloser, auswendig gelernter Rede sprach:

„Minister X., Du bist abgesetzt, und hast sogleich den unten stehenden Wagen zu besteigen, nach Heidelberg zu fahren und Dich daselbst bei dem Seniorenconvent zu melden, der über Dein künftiges Schicksal entscheiden wird. Ich bin der Hof- und Staatsrath Diehl, übernehme von heute an Deine Stelle, Dein Haus und Deine Familie.“

Unterdessen war auf das wiederholte Rufen des Ministers dessen Familie und Dienerschaft erschienen, die das abenteuerliche menschliche Räthsel anstarrten, das fortwährend mit lauter sonorer Stimme sein eben hergesagtes Sprüchlein wiederholte und keine andere Antwort auf die von allen Seiten heftig gestellten Fragen gab. Nur als der Minister in höchster Aufregung nach Wache und Polizei rief, sagte der Eindringling ganz ruhig: „Ja wohl lasse ich Dich arretiren, wenn Du Dich nicht gleich in den Wagen setzen und nach Heidelberg zum Seniorenconvent fahren wirst.“ Nachdem diese Scene seit der Ankunft des Ministerprätendenten etwa eine halbe Stunde gewährt hatte, erschien wirklich auch die herbeigeholte Polizei und brachte den Hofrath mit Gewalt in den Wagen und in die Haft. Der junge rothe Bediente hatte schnell einen Mantel übergeworfen und war spurlos verschwunden. Führer, Pferde und Wagen wurden vom Traubenwirth als Eigenthum des Kutscher Hormuth in Heidelberg festgestellt und einstweilen entlassen. Bei dem am andern Tage angestellten Verhör war natürlich aus dem Arrestanten nichts herauszubringen, der als einzigen Ausweis sein in den drolligsten und unsinnigsten Ausdrücken abgefaßtes Diplom vorzeigte, fest und beharrlich behauptete, daß er Hof- und Staatsrath sei, und fortwährend seine gestrige Rede aufsagte. Es wurde nun die räthselhafte Persönlichkeit nebst Diplom und Acten, unter scharfer Bewachung, in dem Wagen nach Heidelberg an den dortigen Stadtdirector Wild zur Bestrafung und Ermittelung der Helfershelfer gesandt.

Hier war aber schon vorher der rothe Fischer eingetroffen, der in der Nacht von Darmstadt nach Heidelberg gelaufen war und die Nachricht von der Festnahme des Hof- und Staatsraths gebracht hatte.

Glücklicherweise waren die Veranstalter des Ulks keine Burschenschafter, denen in diesem Falle jahrelange Untersuchungshaft in sicherer Aussicht gewesen wäre. Die muthwilligen Sünder waren Söhne hochgestellter Beamten und Mitglieder des Corps der Schwaben das damals schon im Rufe unverbrüchlicher Regierungsergebenheit stand. Ehe daher der Gefangene in Heidelberg eingeliefert wurde, hatte sich der hervorragendste der Missethäter zum Stadtdirector begeben und Beichte des gespielten Streiches abgelegt, worauf ihm nach einigen Unterhandlungen in Anbetracht des Namens und der Stellung seiner Familie volle Absolution ertheilt wurde. – Der arme um seine Ministerstelle geprellte Hof- und Staatsrath wurde aber bei seiner Einlieferung auf einige Tage in Gewahrsam genommen, und erst nachdem die Aerzte ihn nach genauer Untersuchung für unzurechnungsfähig erklärt hatten, laufen gelassen. Das darüber ausgestellte Zeugniß wurde dem Minister X. in Darmstadt mitgetheilt, und somit die Geschichte begraben.

Mit Schluß des Semesters verließen die lustigen Protectoren des Hofraths, die schon längst bemooste Häupter waren, die Universität und ihren Schützling, der bald seinen Nimbus einbüßte, die Zielscheibe des Nachwuchses der Jugend und endlich vergessen wurde. – Der Hauptanstifter des Ulkes ist zur Vergeltung später badischer Staatsrath geworden und als Präsident eines Ministeriums gestorben.

O. A.




Goethe’s Jugend. Es liegt ein Zauber in diesem Worte, dem kein gebildeter Mensch zu widerstehen vermag, der verjüngend den Alten in die Seele weht wie Frühlingsodem und duftiger Maienglanz, der die Gemüther der Jungen ergreift und emporzieht wie ein strahlendes Bild aus höherer Welt. Goethe’s Jugend! Wer ihre Geschichte mit sinniger Empfänglichkeit, mit unbefangenem und verständnißvollem Geiste in sich aufgenommen, der hat sein Inneres mit einem Quell bereichert, aus dem ihm Freude und Erquickung, befruchtende und bildende Anregung sprießen wird bis an das Ende seiner Tage. Nicht als ob diese Jugend frei gewesen wäre von den Schatten und Flecken der Creatur, den Fehlgriffen und Verirrungen, dem dunkelen Ringen und unsicheren Tasten alles Menschenstrebens. Eine so übermenschlich makellose, unerreichbar über dem Irdischen schwebende Vollkommenheit würden wir in kalter Bewunderung anstaunen, aber sie würde nicht im Stande sein, die Theilnahme unserer Herzen zu gewinnen. Auch ein Goethe zeigt uns alle Züge eines durch Nacht zum Lichte, aus leidensreichen Kämpfen mühsam zu harmonischem Dasein sich emporarbeitenden Menschenkindes. Die Art aber, wie er schon frühe die Wogen zertheilt, die ihn umbrausten und verschlingen wollten, die Kraft des großen Instincts, mit der er die Stürme beschworen, alles hemmende Nebelgewölk durchbrochen und seine Bahn gelichtet und geebnet hat in sicherer Vorahnung seiner hohen Bestimmung, schon das allein verleiht allem fesselnden Bilderwechsel und aller unruhevollen Gährung dieser bewegten Jugend den Schimmer einer unvergleichlichen Majestät.

Man weiß, daß das Leben Goethe’s Tausenden inner- und außerhalb unseres Vaterlandes ein ebenso erhabener und erhebender Gegenstand liebevoller Betrachtung und hingebenden Studiums ist, wie es seit vielen Jahrzehnten seine Werke sind; man weiß auch, daß Goethe’s Werke nicht voll und ganz erfaßt, genossen und verstanden werden können ohne eine möglichst genaue Kenntniß seines Lebens, namentlich nicht ohne ein Wissen von dem Aufknospen und Erblühen, dem Werden und Reifen, dem Entfaltungs- und Entwickelungsgange dieses außerordentlichen und einzigen Menschen. Dennoch ist es mit jenem Wissen bei sehr Vielen leider noch äußerst schwach bestellt, da bekanntlich unsere Schulen bis jetzt wenig oder nichts zur Ausfüllung solcher Bildungslücken gethan, ja sogar vorschriftsmäßig derartigen literargeschichtlichen Lehrstoff, Hinlenkung auf die Biographien unserer großen Dichter, ihren Zöglingen gänzlich fern gehalten haben.

Die Redaction der Gartenlaube hatte sich daher nicht getäuscht, als sie durch Mittheilung jener Artikelreihe, in welcher Johannes Scherr das Jugendleben Goethe’s geschildert hat, einer Pflicht zu genügen, eine bedeutsame Anregung zu geben, einem lebhaft sich regenden Bedürfnisse entgegenzukommen glaubte. Goethe’s Kindheits- und Jugendgeschichte, in so lebendigen, farbenreichen und streng geschichtswahren Bildern aus der Feder eines unserer hervorragendsten Schriftsteller und Schilderer vorübergeführt, das entsprach erstem stillen Wunsche Unzähliger, das fiel anheimelnd und erwärmend in die Herzen und wurde sichtlich in weiten Kreisen des Publicums mit dankbarster Aufmerksamkeit empfangen. Es bedarf daher auch wohl keiner Rechtfertigung, daß der Verfasser seine zunächst der Gartenlaube überlassenen Schilderungen nunmehr auf eigene Füße gestellt und durch einen besondern Abdruck in die Reihe der selbstständigen Literaturerscheinungen gestellt hat. Unter dem Titel „Goethe’s Jugend, der Frauenwelt geschildert von Johannes Scherr“ ist das zusammenhängende Gemälde soeben in einer dem poetischen Inhalte entsprechenden Buchform als ein mit sauberer Eleganz ausgestattetes Bändchen erschienen und es dürfte überflüssig sein, wenn wir es an dieser Stelle eingehend charakterisiren, den obigen Hindeutungen auf den Werth und die Anziehungskraft des Stoffes noch eine besondere Empfehlung hinzufügen wollten.

Bemerkt sei nur für Diejenigen, welche die Leistung noch nicht kennen, daß Scherr hier zwar nur die Jugend Goethe’s bis zur italienischen Reise (1786) behandelt, aber seine Darstellung durch ein Schlußcapitel weit über diese Perioden hinausgeführt und überhaupt in dieselbe viele bedeutsame Winke auf das spätere Schaffen und Leben des Dichters verflochten hat. Im Uebrigen ist es auch mit der im Titel angedeuteten Begrenzung auf die Frauenwelt so genau nicht zu nehmen. Das anmuthige und charaktervolle Büchlein wird vielmehr eine genußreiche und erfrischende Gabe für Alle sein, die im heißen Gedränge unserer von gewaltigen Bewegungen und Fragen erzitternden, in ihren Neigungen und Stimmungen aber vielfach doch recht kleinsinnig gewordenen, der geräuschvollen Mittelmäßigkeit und Unbedeutendheit huldigenden Zeit gern Stärkung und Erhebung, Sänftigung und Klärung suchen mögen im gesammelten Aufblicke zu einem überreich von dem reinen Lichte unvergänglicher Schönheit durchstrahlten, auf hochgeschwungenen Bahnen das Höchste erreichenden Wirklichkeit.

A. Fr.




Die Studentenloge im königlichen Schauspielhause zu Berlin. Denjenigen, welche in der Morgenstunde zwischen acht und neun Uhr den der Jägerstraße zugewandten Theil des Schillerplatzes passiren, wird es nicht entgangen sein, daß dort eine dichtgeschlossene Phalanx junger Leute die Thür des königlichen Schauspielhauses belagert. Mag es regnen oder schneien, mögen die Decemberstürme auch noch so rauh die jungen Wangen peitschen, unbeweglich beharren die Jünglinge auf ihrem Platze, und je näher die Zeiger der nebenanstehenden Kirchen auf die neunte Stunde rücken, um so beträchtlicher wächst das Häuflein der theaterbeflissenen Söhne der Alma mater Berlins. Endlich schlägt es neun Uhr; der Glückliche, welcher der Thür zunächst steht, faßt krampfhaft die eisige Klinke; der fest ausschreitende Schließer verkündet klirrend seine Ankunft; das „Ruhig, ruhig, meine Herren!“ des bärtigen Schutzmanns ertönt, jedoch nur, um ungehört zu verhallen, denn schon stürzt durch die geöffnete Thür die jugendfrische Cohorte unaufhaltsam bis zum Billetschalter vor. Doch hier strecken sich zu gleicher Zeit zehn bis zwölf Hände in die Oeffnung, alle bewaffnet mit der studentischen Legitimationskarte, dem blauen Bon und einem Fünfsilbergroschenstück; der Billetverkäufer weiß natürlich nicht, wem er zuerst gerecht werden soll, bis endlich ein schutzbeflissener Mann des Gesetzes Ordnung in die wogende Schaar bringt, indem er sie „zu Vieren“ abzählt und dann jeden einzeln vor den Schalter läßt. Diejenigen, welche die fortlaufenden Nummern eins bis zwölf – sie bilden die beiden vordersten Bänke der Loge – erhalten haben, eilen freudestrahlenden Antlitzes von dannen; es folgen darauf minder frohe, sogar mitunter verteufelt mürrische Gesichter, denn diese Plätze sind nichts weniger denn gut, bis endlich die letzte Nummer 47 verkauft worden ist. Wenige Minuten nach neun Uhr herrscht tiefes Schweigen in diesen noch soeben wildbelebten Räumen: die Studentenloge ist ausverkauft.

So etwa verläuft jeden Morgen der Hergang am Schillerplatze. Sehr stürmisch, ja zuweilen gefährlich ist es an den Tagen, wo eine Novität oder ein classisches Stück gegeben wird. Auch Lustspiele, in denen Vater Döring und seine getreue Partnerin, die Frieb-Blumauer, beschäftigt sind, erweisen sich als zugkräftig; jedoch der stärkste Magnet für die Studenten ist ein Mann, der von ihnen mit Beifall förmlich überschüttet wird, der auch in Leipzig wohlbekannte Richard Kahle. Ein Stück, in dem Kahle beschäftigt ist, füllt die Studentenloge bis zum letzten Platze, und der Künstler darf dessen gewiß sein, daß ihn nach jedem Actschlusse Hervorruf von Seiten seiner frühern Commilitonen ehrt. Denn Kahle ist Student gewesen, besuchte noch in jüngster Zeit als Schauspieler die Collegien des bejahrten Professors Werder und zeigt überhaupt unverhohlen, daß er ein reges Interesse für die Studentenschaft empfindet. Mag es nun auch immerhin der Fall sein, daß ein großer Theil des Beifalls, der ihm so bereitwillig gespendet wird, dem collegialischen Enthusiasmus der Studenten zuzuschreiben ist, die Kahle wohl immer noch als zu ihnen gehörig betrachten, so ist der Künstler dennoch in der That großartig. Wer Gelegenheit hatte, seinen Narciß, Richard den Dritten, Narr in „Was ihr wollt“, Marinelli und besonders Lear und Franz Moor zu sehen, stimmt gern und willig ein in den Applaus, der donnernd aus der kleinen Parterreloge erschallt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 847. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_847.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)