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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Vaters! Aber auch da ist ja, seh’ ich, wenig Hoffnung; also Adieu, Elisabeth!“

Es zitterte etwas von tiefer Bewegung und Schmerz in der Männerstimme, die diese Worte aussprach, und doch fanden sie nur die kühle Antwort:

„Adieu, Rudolph!“

Der Mann entfernte sich mit einem behutsam auftretenden Schritte; sonst blieb Alles still; es schien, Fräulein Elisabeth Escher, bei der, wie wir sehen, die Eifersucht, von ihrem Vater einmal geweckt, Riesenfortschritte gemacht hatte, saß, ihm nachblickend oder in ihre Gedanken verloren, jetzt allein in der Veranda.

Landeck konnte nicht anders, als sehr betroffen sein von dem, was er vernommen und was ihn in seiner Lauscherrolle festgehalten, trotz der innern Beschämung, die er über sich selbst dabei empfunden. War dieser Rudolph, wie ihn die Eifersucht in dem jungen Mädchen so hart und schneidend beschuldigte, ein neuer Nebenbuhler für ihn bei Frau von Haldenwang? Oder hatte er die Wahrheit gesprochen? Der Ton der Wahrheit hatte Landeck durch seine Stimme zu zittern geschienen. Hatte er irgend ein seltsames feindseliges Verhältniß zu demselben Manne, von dem schon vorhin der Doctor Iselt mit einem eigenthümlichen Argwohn zu Landeck geredet und mit dem dieser sich seitdem so viel beschäftigt hatte? Was hatte Iselt, was nun gar dieser unbekannte Rudolph wider den Mann? –

„Wer ist Rudolph?“ fragte Landeck seinen Zögling, als dieser nach dem Abendessen herauf kam, um seinem Lehrer gute Nacht zu sagen und dann zur Ruhe zu gehen.

„Rudolph? Meinen Sie Vetter Rudolph?“

„Ist er Dein Vetter?“

„Nun ja, gewiß. Er ist Onkel Gotthard’s Sohn, und darum ist er auch mein Vetter, nicht? Aber sonst, wissen Sie, liebe ich ihn nicht. Der Vater will auch nicht, daß ich viel zu ihm und zu Onkel Gotthard hinüber gehe. Zu Onkel Gotthard ging ich sonst gern. Er hat zwei hübsche Eichkätzchen in einem Rollkasten und unter dem Giebel an seinem kleinen Hause da drüben eine Menge Schwalbennester. Wir haben kein einziges. Wenn die Schwalben im Frühjahre bauen, kommt gleich der garstige Andres, der Gärtner, und stößt die unfertigen Nester herab; sie verdürben das Haus, sagt er – und dem Onkel Gotthard seines verderben sie doch nicht.“

„Wohnt der Onkel Gotthard denn in der Nähe?“

„I, sicherlich. Haben Sie denn nicht das Haus an der andern Seite des Flusses gesehen, das hübsche kleine Haus mit dem Garten umher? Kommen Sie in’s Schlafzimmer! Da kann ich es Ihnen durch’s Fenster zeigen.“

Landeck folgte ihm und ließ seine Blicke auf dem anziehenden kleinen Heim auf der halben Bergeshöhe verweilen, welches wir beschrieben haben und das er oft als einen Schmuck der Landschaft in’s Auge gefaßt.

„Da wohnt der Onkel Gotthard und mit ihm Dein Vetter Rudolph?“ fragte er verwundert, daß er im Kreise der Familie unten noch kein einziges Mal einen dieser Namen hatte aussprechen hören.

„Da wohnen Beide. Vetter Rudolph bewohnt das Giebelzimmer, über dessen Fenster die Schwalben nisten. Die Eichkätzchen aber hat der Onkel unten in seinem Wohnzimmer – –“

„Und was sind, was treiben sie Beide da in dem freundlichen Hause?“

„Was sie treiben? Der Vetter Rudolph ist Werkmeister in der Maschinenfabrik der Herren Bartels und Söhne da oben am Fluß, wissen Sie? Und der Onkel Gotthard, der ist auch in der Fabrik; er ist – ich weiß nicht, wie man es nennt, was er ist.“

„Und kommt er nie hierher, der Onkel Gotthard?“

Karl schüttelte den Kopf.

„Er wird zu viel in der Fabrik zu thun haben; früher ging Elisabeth zu ihm hinüber und nahm mich mit sich, aber jetzt nicht mehr; der Rudolph brachte uns zurück bis zum Fluß – aber Rudolph mag ich nicht. Er ist immer so düster und so einsilbig; er hat einen so häßlichen langen Bart. Wollen Sie, daß ich Ihnen Onkel Gotthard’s Haus im Innern zeige, so wollen wir morgen hingehen und sehen, ob die Eichkätzchen noch leben. Der Onkel und Vetter Rudolph werden in der Fabrik sein, aber die alte Gertrud wird zu Hause sein; die zeigt uns die Eichkätzchen.“

„Wenn Dein Vater es nicht gern sieht, daß Du zum Onkel gehst – wohl, weil er fürchtet, daß Du ihm lästig wirst – so wollen wir es unterlassen,“ versetzte Landeck und sandte seinen Zögling zur Ruhe. –

Als er zum Nachtessen heruntergerufen worden, fand er die Familie des Herrn Escher im Speisezimmer versammelt; sie bestand aus dem Hausherrn, der Hausfrau, einer stillen, untergeordneten Frau, die in ihrem Wesen etwas Leidendes hatte und nach ihrem Bildungsstandpunkt nicht recht zu ihrem Gatten zu passen schien, Fräulein Elisabeth, einer zweiten Tochter von etwa vierzehn Jahren und einem paar Herren, die Beamte des Fabrikanten waren, technische Dirigenten seiner Fabrik.

Unter diesen Herren und Herrn Escher war eine äußerst lebhafte Debatte, bereits als Landeck eintrat, im Gange, und sie wurde während der Abendmahlzeit mit demselben Eifer fortgesetzt. Sie drehte sich um die Lage der Arbeiterbevölkerung der Gegend, um die ausschreitenden Anmaßungen der Leute, die wachsende Rohheit unter ihnen und die Folgen der von außen durch fremde Agitatoren unter sie gebrachten Aufregung. Wie sehr man darunter litt, zeigte sich in der Bitterkeit und der zornigen Schärfe, womit alle drei Herren sich darüber aussprachen. Außerdem sah Landeck deutlich, daß alle Drei unter dem Drucke einer großen Sorge, der Angst vor irgend einem möglichen oder bevorstehenden Ausbruch einer Katastrophe standen, wobei doch Herr Escher fest genug seinen Entschluß kundgab, um kein Haarbreit nachzugeben und lieber dem Aeußersten zu trotzen, als sich vor dem Willen der um alle Einsicht und allen Verstand gebrachten Menge zu beugen.

Landeck hatte ähnlichen Gesprächen schon früher zugehört, ohne sich hineinzumischen, da er als Fremder die Sachlage so wenig kannte; heute schienen sie ihm eine besondere Heftigkeit zu haben, und was er vorher aus des Vetters Rudolph Munde vernommen, machte sie für ihn doppelt bedeutungsvoll.

Frau Escher blieb dabei in ihrer gewöhnlichen passiven Haltung, Fräulein Elisabeth aber schien gespannt zuzuhören. Und während das junge Mädchen so, nach ihrem Vater hinüberschauend, Landeck das Gesicht zuwandte, fiel diesem auf, welch große Aehnlichkeit im Schnitt ihrer Gesichtszüge mit denen der Frau von Haldenwang lag. Elisabeth’s schöne, schlanke Gestalt war höher, ihre Haltung im Ganzen kälter und steifer als die jener; statt der Anmuth der Frau von Haldenwang und ihrer unbefangenen Natürlichkeit lag im Wesen Elisabeth’s eine gewisse jungfräuliche Herbheit; ihre Züge aber hatten denselben Charakter, nur war die junge Wittwe schöner, ihr Gesicht klarer, geistig ausdrucksvoller. Es war, als ob sie zwei Portraits derselben Person wären, von denen das eine ein gewöhnlicher Maler, das andere ein großer und genialer Künstler gemalt hätte. Sie waren ja freilich auch verwandt. Den rechten Zusammenhang kannte Landeck nicht, und dieser konnte nicht sehr nahe sein, denn Frau von Haldenwang hatte, wenn Landeck zu ihr gekommen, sich nie nach dem Befinden der Familie, in der er lebte, erkundigt, was doch nahe gelegen hätte, wenn sie in einer engern Verbindung gestanden. Nur einmal hatte er von einem Besuche reden gehört, den Elisabeth oben auf dem Gute gemacht. Ob er erwidert war, wußte er nicht. Es war seltsam. Was trennte alle diese Leute, welche die Natur auf einander anwies, welche ja auch das Leben einander so nahe gerückt hatte? Und wenn Herrn Escher’s Bruder in einer Fabrik beschäftigt, wenn dessen Sohn Rudolph Werkmeister in einer solchen war, weshalb standen sie in solchen Stellungen nicht dem Bruder in seiner eigenen Fabrik bei? Es mußte irgend ein tiefes Zerwürfniß durch diese ganze Blutsgenossenschaft gehen, und die Schuld desselben, sagte sich Landeck, konnte unmöglich auf dem Vater liegen. Dieser Mann machte ihm den Eindruck der unerschütterlichsten Rechtlichkeit und auch der größten Humanität, und in seinem Wesen schien ein fast hochmüthiges Bewußtsein zu liegen, daß er als ein „selbstgemachter Mann“ Niemandem in der Welt etwas schulde, vor Niemandem den Blick niederzuschlagen, nichts, was er gethan, zu bereuen habe.

(Fortsetzung folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_024.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)