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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Complex von Gebäuden, deren solide Bauart und verwitterte graue Tünche zwar den unauslöschlichen Stempel hohen Alters zur Schau tragen, die aber im Uebrigen durch ihr architektonisch unscheinbares Aeußeres und Inneres wenig von der Bedeutung verrathen, welche sie für die Geschichte Berlins und eines Theils seiner Bevölkerung gehabt haben und noch haben. Es sind die Gebäude Molkenmarkt Nr. 1, 2 und 3. Die Vorderfront derselben bildet einen stumpfen Winkel, dessen Spitze jener historischen Ecke der Poststraße, an welcher das älteste Städtewahrzeichen der deutschen Reichshauptstadt, die gewaltige Riesenrippe, befestigt ist, gerade gegenüberliegt. Nach der Bauart zu urtheilen, ist das Haus Nr. 1, das Polizeipräsidium, das älteste.

Das Criminalgericht wohnt in den Häusern Nr. 2 und 3. Man denke sich ein möglichst schlecht casernirtes Armenhospital einer mittleren norddeutschen Stadt, und man hat eine ungefähre Vorstellung von Nr. 2. Ein Eingang, über dessen Thür das „Lasset die Hoffnungen draußen!“ mit Recht stehen könnte, ein dunkler Flur, ein Hof, gerade groß genug, um eine Klafter Holz darauf klein zu machen, und eine schmale halsbrecherische Treppe aus Steinstufen – das ist der Empfang. Im Parterre befinden sich die Localitäten für das Polizeigericht. Es ist die Richtstätte der „Elenden“, der Parias unserer Gesellschaft, der Bettler und Landstreicher, die hier massenweise abgeurtheilt und sofort zur Verbüßung der Strafe nach dem Arbeitshause dirigirt werden. Es giebt wohl in deutschen Landen keinen Beamten, der von dem pessimistischen Hauche des Jahrhunderts in crasserer Weise berührt würde, als der Berliner Polizeirichter. So viel Anhäufung von Verkommenheit, thierischer Stumpfheit und Verleugnung aller Menschenwürde findet sich an keinem andern Orte.

In den obern Etagen des Gebäudes weht eine etwas reinlichere Luft. Hier sind die Bureaus und Canzleien der Gerichtsdepuationen. Die Zimmer des obersten Stockwerks – aus früheren Bodenräumlichkeiten entstanden – werden als Verhörsstube benutzt. Es sind niedrige kleine, in der dürftigsten Weise möblirte Räume, welche mehr den Eindruck von Gefängnißzellen, als von Amtslocalen machen. Beim Betreten derselben fragt man sich unwillkürlich: was haben die Richter, welche hier ihre Termine abhalten, verbrochen, um in einer solchen Luft athmen zu müssen? Die Einrichtung ist so, daß auf manchen Fluren während des ganzen Sommers Gas gebrannt werden muß, daß man im Winter, wenn man nicht ersticken will, genöthigt ist, bei offenen Fenstern zu arbeiten.

Das Gebäude Nr. 3 mit seiner zwar etwas düsteren, aber nicht abstoßenden Vorderseite mit dem officiellen Balcone zum Nichtgebrauche bildet den eigentlichen Mittelpunkt der Criminalrechtspflege. Es ist nicht ohne Geschmack, sogar mit einigem Luxus angelegt. Im Parterre ist die Residenz des Staatsanwalts; große, hohe Zimmer, aber lange nicht geräumig genug, um allen Anforderungen zu entsprechen. Die Ruhe und Ungestörtheit, welche die schwierige Arbeit des Staatsanwalts vor allen Dingen zu erfordern scheint, sucht man hier vergebens. Dazu gehörte, daß jedem Beamten ein eigenes Zimmer zugewiesen wäre, während der jetzige Zustand, wo vier bis fünf auf denselben Raum angewiesen sind, geradezu unerträglich ist.

Der große Audienzsaal, der einzige seiner Art, ist in der ersten Etage gelegen. Hier finden wir an Tagen, wo Verhandlungen von allgemeinem Interesse stattfinden, außer dem gewöhnlichen Stammpublicum, auch die Herren Vertreter der Berliner Presse. Man hat es sich in der letzten Zeit angelegen sein lassen, den geplagten Reportern die Erfüllung ihres in mancher Beziehung wohl dornenvollen Berufs durch einige Bequemlichkeit zu erleichtern. Sie brauchen nicht mehr im Stehen auf dem Rücken ihres Vordermannes zu schreiben; sie sind auch nicht mehr genöthigt, wegen Sicherung eines Platzes mit den „Criminalstudenten“ an der Thür des Zuhörerraumes Queue zu machen. Sie haben ihren eigenen Journalistentisch und können gehen und kommen, wenn sie wollen, ohne befürchten zu müssen, „wegen Mangels an Raum“ nicht mehr zugelassen zu werden.

Wenn wir nun die breite Treppe zum zweiten Stockwerke des Hauses Nr. 3 hinaufsteigen, so gelangen wir zu dem Bureau und dem Terminszimmer des Untersuchungsrichters. Es fehlt auch hier an aller und jeder Bequemlichkeit. Jeder Schmuck und jede Zierde ist mit einer übertriebenen Aengstlichkeit vermieden. Der Zusammenhang dieser Gerichtslocalitäten mit den Gefängnißräumen wird hergestellt mittelst eines Verbindungsganges, der eine hinreichende Garantie dafür gewährt, daß der verhaftete Angeschuldigte dem Untersuchungsrichter vorgeführt werden kann, ohne mit der Außenwelt in irgend welche die Führung der Untersuchung gefährdende Berührung zu kommen. Er führt nämlich direct in die Räume des Stadtvogtei-Gefängnisses. Der Verhaftete hat also bei seinem Gange aus der Gefängnißzelle in das Gerichtszimmer nur eine Postenkette von Aufsehern und Gerichtsdienern zu passiren, welche alle seine Bewegungen controliren und jeden Versuch, etwa einem gleichzeitig vorgeführten Mitgefangenen oder einer anderen Person, die sich zufälliger Weise auf dem Verbindungsgang aufhalten könnte, etwas zuzustecken oder auch nur zuzuflüstern, sofort vereiteln oder zur Anzeige bringen können. Wenn trotzdem sehr viele Gefangene von Allem, was außerhalb der Gefängnißmauern im Bereiche ihrer Interessen geschieht, oft genauer unterrichtet sind, als der die Untersuchung führende Richter, wenn die schönsten Ergebnisse der complicirtesten Beweisaufnahme an den Gegenwirkungen eines erkauften oder erschwindelten Alibibeweises oder an sonstigen sträflichen Umtrieben der eng zusammenhaltenden Gaunergesellschaft scheitern, so liegt dies einmal an der draußen und drinnen mangelnden Zuverlässigkeit des Aufsichtspersonals, die nur durch energische Gehaltsaufbesserung annähernd erreicht werden könnte, und zweitens an der Lage des Gefängnisses.

Das große unregelmäßige Viereck, auf welchem die Stadtvogtei erbaut ist und dessen Vorderfront durch die geschilderten Gebäude, Molkenmarkt Nr. 1, 2 und 3, begrenzt wird, ist nach der Südseite zu, wo die Spree ihre schmutzigen Fluthen der Königlichen Mühle zuwälzt, offen. Die Gefangenen, welche in den nach dieser Seite hinaus belegenen Zellen untergebracht sind, können sich – allerdings nur mittelst Zeichen und Geberden – mit solchen Personen, welche auf dem jenseitigen unbebauten Spree-Ufer stehen oder auch mit einem Kahn an das diesseitige Ufer herankommen, ganz vortrefflich unterhalten und verständigen. Daß dies in ausgedehntestem Maße geschieht, braucht wohl kaum erwähnt zu werden. Auch die Ostfront der Stadtvogtei, nach dem sogenannten Krögel zu belegen, ist nicht gehörig abgeschlossen. Der Krögel ist eine schmale Gasse, deren eine Seite durch die Höfe, respective Gebäude des Criminalhauses und des unmittelbar daran grenzenden Gefängnisses gebildet und begrenzt wird. Auf der andern Seite ist eine Flucht von Gebäuden, die von einer Masse kleiner Leute bewohnt werden. Auch hier ist also gegen die Möglichkeit einer Verbindung mit der Außenwelt von den Fenstern der einzelnen Gefängnißzellen aus, welche meistentheils nach dem Krögel zu liegen, keine genügende Sicherung getroffen.

Als ein dritter Umstand ist endlich die innere Einrichtung des Stadtvogteigefängnisses zu erwähnen. Dasselbe dient zwar, nach Vollendung des Prachtbaues am Plötzensee und nachdem man für die weiblichen Gefangenen in dem in der Barnimstraße belegenen früheren Schuldgefängnisse Raum geschafft hat, vorwiegend nur noch als Arrestlocal der männlichen Untersuchungsgefangenen, deren Zahl sich durchschnittlich auf vierhundert bis sechshundert beläuft. Allein trotz der erheblichen Raumvermehrung ist die Unzulänglichkeit der vorhandenen Einrichtungen immer noch eine sehr fühlbare. Der Grund liegt darin, daß bei Erbauung des Gefängnisses die Einwohnerzahl Berlins kaum den zehnten Theil ihrer jetzigen Höhe erreicht hatte. Damals mochte der Bau, dessen Terrain ein so engbegrenztes ist, daß man ihn nur durch Aufsetzen von Etagen erweitern konnte, den Ansprüchen der Residenz wohl in mehr als ausreichendem Maße genügen. Jetzt, bei der vergrößerten Einwohnerzahl, liegt die Sache selbstverständlich anders.

Die Untersuchungshaft bezweckt in den meisten Fällen nur den vollständigen Abschluß von der Außenwelt; aber sie darf in keinem Falle eine willkürliche Erschwerung der Lebenslage des Gefangenen enthalten. Denn der Verhaftete kann unschuldig sein, und den Schaden, der ihm durch die Dauer der Haft an Ehre, Vermögen und Gesundheit zugefügt wird, ersetzt ihm ohnehin Niemand. Man erleichtere ihm also sein Loos nach Möglichkeit. Man sorge für eine angemessene Beschäftigung, für freie Körperbewegung in frischer Luft und gestatte selbst eine mäßige Geselligkeit. Der Tact des Gefängnißdirectors muß hier freilich das Beste thun. Einen unverbesserlichen Zuchthäusler mit Glacéhandschuhen anzufassen, verbietet sich von selbst. Wer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_047.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2020)