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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

heute stehen sie nur 10* und respective 7, während Tamines–Landen glücklich bei 3* (sage drei!) angelangt sind. Man sieht, die Börse kann Alles brauchen, und sie versteht es, in ihren Netzen Groß wie Klein einzufangen.

Trotz der Menge von fremden Effecten, die sämmtlich unter die Leute gebracht wurden, verspürte man doch Mangel, und um diesem abzuhelfen, beschloß man, neue Papiere zu machen. Man schuf „neue Werthe“; man legte sich auf’s Gründen.

Noch tobte der Krieg, da begannen schon die Gründungen emporzuschießen, wenn auch noch schüchtern und scheu, wie die ersten Gräschen im März. Noch im Jahre 1870 erblickten, Dank dem eben fertig gewordenen Actiengesetz, in Preußen vierunddreißig neue Actiengesellschaften das Licht der Welt. Die meisten davon kamen natürlich aus Berlin, und fast alle fanden Eingang an der Berliner Börse. Doch dies war nur ein kleines Vorspiel. Das eigentliche Drama begann 1871, erreichte seinen Höhepunkt 1872 und fand den Abschluß erst in der zweiten Hälfte 1873, erst viele Monate nach dem Wiener „Krach.“ Auch nach dem „Großen Krach“ fuhr man in Berlin noch munter zu gründen fort. Und darum ist es nöthig, schon jetzt eine viel verbreitete und von mehreren Seiten eifrig genährte Ansicht zu berichtigen: als ob nämlich die Berliner Börse im Gründen hinter ihrer Wiener Schwester zurückgeblieben wäre. Just das Gegentheil! In Berlin ist weit mehr gegründet, und dabei mindestens ebenso viel gesündigt worden wie in Wien.

Kaum war der Friede geschlossen, als die Börse ihren Freudentanz begann, den verzückten rasenden Tanz um das Goldene Kalb. Es tanzten die „großen Häuser“ vor; es tanzten die „kleineren Häuser“ nach, und an die Meister und Lehrer schloß sich ein großer tagtäglich wachsender Schwarm von Jüngern und Anhängern, darunter Leute jedes Standes und jeder – Religion. Man tanzte von früh bis spät; man tanzte mit Schreien und Jauchzen durch Monde und Jahre. Nur ein paar Mal brach der wüste Reigen jäh ab. So Ausgang 1871, Frühling 1872 und Spätherbst 1872. Die Tänzer erbleichten und erbebten plötzlich; sie hielten den Athem an und lauschten, aber es blieb still. Der Himmel schien noch immer blau, und so tanzte man weiter. Als nun im Mai 1873 das Ungewitter endlich in Wien losbrach, da wollte man in Berlin die grausen Donnerschläge nicht hören, die den ganzen Himmel überfluthenden und die Erde tief aufwühlenden Blitze nicht sehen, sondern man versuchte auch jetzt noch fortzutanzen. Aber der Boden wankte – die Tänzer stürzten nieder und viele standen nicht mehr auf.

Die fünf Milliarden nebst Zinsen, welche Fürst Bismarck, unter Assistenz des Herrn Gerson-Bleichröder, von Thiers und Favre erstritt, betrachtete die Börse von vornherein als ihr Eigenthum, indem sie meinte, diese fabelhafte Summe müsse ihr direct oder indirect zufließen. Dazu verkündete sie einen unendlichen Aufschwung in Handel und Wandel, ein unendliches Steigen der Preise von Grund und Boden. Nach der Behauptung der Börse und der mit ihr verbündeten „Volkswirthe“ waren wir Alle, vom Kaiser bis zum Bettler, plötzlich reich geworden, das Nationalvermögen hatte sich verzehnfacht, und um dieses kolossale Plus nicht brach liegen zu lassen, mußten damit neue Unternehmungen in’s Leben gerufen, mußten „neue Werthe“ geschaffen werden.

Und es geschah also. Während der beiden Jahre 1871 und 1872 wurden in Preußen zusammen etwa siebenhundertachtzig Actiengesellschaften gegründet. Um diese Zahl gehörig zu würdigen, muß man wissen, daß von 1790 bis 1870, das heißt in achtzig Jahren, zusammen nur circa dreihundert solcher Gesellschaften entstanden sind. Während der beiden Jahre 1871 und 1872 kam also in Preußen auf jeden Tag durchschnittlich eine Gründung. Diese siebenhundertachtzig Actiengesellschaften wurden zum größten Theile in Berlin gegründet oder doch mitgegründet und fast alle an der Berliner Börse eingeführt, während die Zahl der Gründungen und Emissionen in Oesterreich-Ungarn für denselben Zeitraum nur gegen vierhundert beträgt. Somit ist der Beweis geführt, daß die Gründungsepidemie in Berlin weit ärger gewüthet hat als in Wien.

Zu den Firmen, welche sich mit Gründungen befaßten, gehören in erster Reihe folgende: S. Bleichröder und Disconto-Gesellschaft, Berliner Handelsgesellschaft, G. Müller u. Comp., und H. C. Plaut, S. Abel jun., Jakob Landau, Julius Alexander, Delbrück, Leo u. Comp., F. W. Krause u. Comp., Platho u. Wolff, Ries u. Itzinger, Robert Thode u. Comp., A. Paderstein und Eduard Mamroth, Soergel, Parrisius u. Comp. und Norddeutsche Grund-Creditbank, Meyer Ball, Karl Coppel u. Comp., Meyer Cohn, Feig u. Pincus, Hirschfeld u. Wolff, Joseph Jacques, Moritz Löwe u. Comp. etc.

Diese Firmen vollbrachten, einzeln oder in Gruppen vereint, die Kreuz und Quer, mit- und durcheinander die größten und wuchtigsten Gründungen. S. Bleichröder und Disconto-Gesellschaft, die bekanntlich einen Weltruf und Verbindungen über die ganze Erde haben, gründeten häufig in Verbindung mit dem Hause Rothschild und der Oesterreichischen Creditanstalt, mit Wilhelm Behrens in Hamburg, Wilhelm von Born in Dortmund. Mewissen und Freiherr Abraham von Oppenheim in Köln etc., und diese Gründungen erstrecken sich nicht nur über ganz Deutschland, sondern auch über Oesterreich-Ungarn, Rußland, Schweiz, Italien, Frankreich etc. Bei der „Centralbank für Handel und Industrie“, die deshalb in Börsenkreisen auch die Bezeichnung „Repräsentationsbank“ erhielt, betheiligten sich wohl ein paar Dutzend Bankhäuser und Bankinstitute in Berlin, Leipzig, Frankfurt a. M., Stuttgart, München, Wien, Pest, Hamburg, Mailand und Rom – und man könnte hiernach fast auf den Gedanken kommen, daß solche Gründung doch ein äußerst schwieriges und mühsames Werk ist. Berliner Gründer waren in der Regel auch in der Provinz überall mit thätig, wo sie in Verbindung mit den Eingeborenen eine Unzahl von Gründungen, und darunter die bösesten, verübten. So namentlich in Stettin, Breslau, Görlitz, Grüneberg, Posen, Magdeburg, Hannover, Erfurt, Mühlhausen, Leipzig, Dresden und Chemnitz.

Ferner zeichneten sich durch die Menge der Gründungen folgende Banken aus, von denen merkwürdiger Weise die meisten soeben selber gegründet waren: Deutsche Unionbank, Centralbank für Handel und Industrie, Berliner Bank, Berliner Bankverein, Berliner Wechslerbank, Deutsche Bank, Centralbank für Genossenschaften, Allgemeine Depositenbank etc. Sie haben alle viel gesündigt und viel zu verantworten, aber sie waren noch lange nicht die schlimmsten. Als solche, als eigentliche Gründerbanken, die das Gründen gewerbsmäßig und zum Theil fast ausschließlich betrieben, kennt und nennt man Gewerbebank H. Schuster und Compagnie, Centralbank für Bauten, Preußische Bodencreditactienbank und Vereinsbank Quistorp. Der besseren Uebersicht halber wollen wir diese Gründerbanken schon jetzt skizziren:

Die Gewerbebank H. Schuster und Compagnie ist sehr berühmt geworden durch die Lasker’schen „Enthüllungen“ am 7. Februar 1873; weit berühmter, als sie es eigentlich verdient. Sie that sich 1864 mit einem baar eingezahlten Capital von zweihundertfünfzigtausend Thalern auf, ging aus conservativen Kreisen hervor und betonte als ihren Zweck „die Hebung des Credits von Handwerkern und Fabrikanten.“ Gewiß ein höchst ehrenwerther Zweck und ein Institut, das einem wahrhaften Bedürfnisse entsprach! Zu den Gründern gehörte der frühere Chefredacteur der „Kreuzzeitung“, der damalige Justizrath Herr Wagener, später Wirklicher Geheimer Oberregierungsrath und vortragender Rath beim Staatsministerium. Die Bank scheint auch mehrere Jahre hindurch ein ganz solides Geschäft betrieben zu haben, bis sie dem Gründungsschwindel verfiel und ihr Capital von ursprünglich einer Viertel Million rasch auf sechs Millionen erhöhte. Der persönlich haftende Gesellschafter, Herr Schuster, gründete mit zwei Aufsichtsräthen der Bank, den Herren Oder und Wagener, unmittelbar nach Ausbruch des neuen Actiengesetzes die famose „Pommersche Centralbahn“, deren Actien, mit hundertzwei und einhalb an der Börse eingeführt, heute 4 Brief stehen, das heißt mit vier zu haben sind, aber auch dafür noch keinen Käufer finden. Das überaus kunstvolle Gewebe dieser Gründung, bei welcher das Gesetz ein Dutzend Mal in der ergötzlichsten Weise umgangen ist, enthüllte, als die Krisis bereits heranzog, eben Herr Lasker. Der Fall „Schuster-Oder-Wagener“ machte, weil er der erste war, der zur öffentlichen

* Dieser Artikel ist schon im December geschrieben, während die genannten Course seit Neujahr durch Hinzuschlagen der Börsenzinsen wieder um vier Procent höher notiren. Sie sind übrigens nur nominell, d. h. die betreffenden Effecten werden kaum noch gehandelt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_063.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)