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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


im Auge, springt auf, wirft die Kapuze um und huscht eilig zur Post. – Und wieder kein Brief!

„Und die Marie wird von Tag zu Tag blässer, und im Frühjahr muß sie 'Franzensbader Eisenquelle' trinken,“ sagen Mutter und Muhmen.

Die Anwesenheit so vieler Fremden aus den höchsten und gebildetsten Ständen, aus fremden Landen, die romantische Beleuchtung, die sie durch die fremde Sprache und galante Lebensweise gewinnen, üben einen poetischen Reiz auf das empfängliche Mädchengemüth. Was Wunder, daß man in Karlsbad hineinfährt, wie in eine Lebenschronik: bleiche Novellen schleichen, tragisch angehauchte Balladen schlottern, heiße Romanzen eilen hinter den jüngsten Mädchen und den Matronen einher.

Am Markplatz geht es noch am lebhaftesten zu. Hier ist das Postamt, die altberühmte hundertjährige Apotheke Becher's und das Capitol. Karl der Vierte, der „Gründer Karlsbads“, steht, aus rohem Sandstein gemeißelt, da und reibt sich den Theil, mit dem man gemeinhin dem Photographen nicht sitzt, an dem städtischen Rathhaus. Hier thront der Bürgermeister, der Erfinder der draconischen Curtaxe, die auch Nicht-Curgäste einschließt. Die Sitzungen dieses Senats gehören zu den beliebtesten, leider durch Raummangel beschränkten Volksbelustigungen. Schade, daß sie der Stadt so theuer zu stehen kommen, denn es schlägt in ihnen eine viel kräftigere, humoristischere Volksblutader als in dem „Ziogel-Bürgermeister und Sandauer Dosenstück“, welches, von einem Einheimischen gedichtet, in dem renommirtesten Dilettantentheater Cassastück wurde. Dieses Dilettantentheater führt den poetischen Namen „Flohburg“, weil es während der Saison zur Aufbewahrung der polnischen Juden dient. Das städtische Theater ist im Winter meist geschlossen, da man den Stadtverordneten-Sitzungen nicht Concurrenz machen will.

Ich wandle durch die Mühlbad-, Kreuz- und Egerstraße; hier wird ein neues Haus gebaut, da ein altes ausgeflickt, dort ein drittes Stockwerk aufgesetzt und eine Remise in ein lohnenderes Etablissement umgewandelt. Man arbeitet rasch und mit Hast, denn nur bis zur Eröffnung der Saison – am 1. Mai – darf gebaut werden. Da heißt es: sich sputen, hurtig zur Hand sein, den ersten Sonnenstrahl erwischen und den letzten noch ausnutzen, den Gulden nicht sparen und mit den Arbeitern fein säuberlich umgehen. Nur die städtischen Bauten schreiten bedächtig im behäbigen Bürgerwehrtrab vorwärts, und die Mühlbadcolonnade, obgleich sie im Kegelbahnstile angelegt ist, wird doch den berühmtesten gothischen Bauwerken, den Domen, gleichen – gleich diesen wird sie niemals ausgebaut sein.

Ein Freund begleitet mich in den Wald hinaus. Anfangs haben wir noch Pfad, bald aber ist der Weg von Laub, Schnee, Tannenzapfen und Geröll bedeckt. Hier und da sind die breiten Fußstapfen eines Holzschlägers sichtbar. Einsamkeit und Stille herrscht; nur ein Hase huscht vorüber; ein Eichkätzchen klettert behend den Baum hinauf. Ueberall Frieden – eine Sabbathruhe der Natur. Das Thier, verwundet, flüchtet in's tiefste Waldesdunkel und klagt sein Leid den alten Bäumen – und auch der Mensch, mit der Wunde im Herzen und dem Grame in der Seele steigt er hinauf und findet im Walde Trost, Ruhe und Erleichterung. Denn der Wald ist die grüne Kirche, die der Schöpfer da oben aufgebaut hat. Durch die Aeste bricht goldiger Schein, und als ewige Ampel ist die Sonne da oben aufgehängt. Erhebender als Orgelklang tönt der Blätter Rauschen, und Baumpredigt erhebt mehr als des Pfaffen Litanei. Der würzige Harzgeruch duftet andächtiger als der Weihrauch, und der beste Betschemel ist uns der von weichem Moossammet überkleidete Fels.

Die alten Tannen erzählen sich jetzt ihre Erlebnisse; sie plaudern wundersame Dinge und lächeln über das windige Treiben der kleinen Leute, die in ihrem Schatten gewandelt. Sie flüstern von Liebesschwüren, die hier heiß aufgelodert und so rasch verglüht sind, von Seufzern, die hier geschluchzt und so rasch verklungen sind, von Eiden und großen Worten, die hier für die Ewigkeit gesprochen und dann so rasch gebrochen wurden. Und eine alte Eiche, die in ihrer Brust ein Muttergottesbildchen trägt, weiß noch von den alten Schöppengerichten zu erzählen, und lächelt in den weißen Bart hinein über dermaligen Karlsbader Senat.

Ein gewaltiger Stein, der sich abgelöst, legt sich über den Weg, und aus seiner Schneehülle glänzt es goldig heraus. Als ich ihn überschreiten will, was seh ich? – Verse! veritable gereimte Verse „von Einem, der hoffnungslos hierher kam und geheilt heimzog“, und der sich darob verpflichtet fand, Jenen, die nach ihm kommen, das grüne Banner der Hoffnung aufzustecken, in Jamben Kunde zu geben von den Quellen, die er trank, und den Offenbarungen, die er hatte, oder in Trochäen zu warnen vor des rohen Obstes leicht gefährlichem Genusse und des Sprudelsatzes lösender Macht. Und so werden selbst Commerzienräthe zu Poeten und treiben mit dem Metrum Spott. Er aber, der hier Gesetztafeln für das Leben gab und seine Fastenpredigt in Stein grub, er sitzt wieder daheim, der unverbesserliche Alte, schwärmerisch blickt er auf den Citronentropfen im zuckenden Austerleibe, wie der verliebte Jüngling auf die Thauthränen im Blumenauge, und die Rechte, die noch kürzlich krampfhaft den Sprudelbecher umfaßte, füllt jetzt toastend das Champagnerglas.

Immer höher hinan. Da öffnet sich der Weg zum Hirschensprung. Wer Alles ist diesen Weg vor mir schon gewandelt! Was für Gestalten tauchen da nicht auf, blicken aus dem Busche und treten hinter den Tannen hervor! Auf den Arm des Oesterreicher Herzogs Ferdinand stützt sich seine holde Gattin, die blonde Welserin; an diesem Felsen ruht August der Starke zu den Füßen der schönen Aurora; Gellert, der 1763 auf seinem famosen Schimmel hergeritten kam, den ihm Prinz Heinrich von Preußen schenkte, schreitet fürbaß an der Seite seines unzertrennlichen Sprudel-Zechkumpans, des kleinen hageren Laudon; Schiller reitet nach Frauenart auf seinem Esel, die kurze Tabakspfeife im Munde, den Berg hinan – zu seiner Seite schreitet sein junges Weib; Theodor Körner dichtet hier seine schönsten und namhaftesten Schwertlieder, umrankt mit seiner Poesie die hohen Buchen, um bald darauf bei Gadebusch sein junges Leben auszuhauchen; Goethe, Karlsbads treuester Stammgast, wandelt mit der Fürstin Pankrazin, mit Schiller, Tiedge und dessen edler Freundin Frau von der Recke, während des Congresses als Staatsminister mit all den hohen Herren und geriebenen Diplomaten; Bettina klagt ihn hier im Schatten dieser Buchen bitter an, wie sehr er sie vernachlässige, und läßt in der grünen Waldeinsamkeit ihre Thränen fließen, und er selbst, als siebenundsiebzigjähriger Greis fühlt er noch einmal die Liebe an sein nie alterndes Herz pochen und bietet in verschwiegener Waldeinsamkeit seine Hand einem siebzehnjährigen rosigen Kinde an; der alte Blücher macht hier seine Verdauungspromenade, nachdem er unter kernigen Flüchen, daß „ihm, dem Todfeind aller Wasser, solch dumme Geschichte passiren muß“, ein halb Dutzend Becher Neubrunn getrunken hat.

Während des Congresses wandeln da Fürst Metternich, Winzingerode und Hardenberg und berathen, wie die Welt wieder einzurichten sei; der geistreich-witzige Prince de Ligne führt die Prinzessin Biron hinan und wirft ein köstliches Bonmot der hinter ihm am Arme Schwarzenberg's schreitenden Herzogin von Sagan zu, deren rosige Finger manch zarten diplomatischen Faden weiter spinnen, während Gentz sich Appetit holt für die leckere Tafel des Fürsten Esterhazy und mit Grafen Bernstorff und Adam Müller sich inspirirt für die Abfassung der Artikel, betreffend die „Maßregeln gegen die Presse“; Chateaubriand geleitet die Herzogin von Angoulême, zu deren Besuche er von Teplitz (wo Karl der Zehnte die Bäder gebraucht) herübergekommen ist, und schneidet seinen Namen und ein großes Kreuz mit mächtiger Hand in die alte Linde, welche das steinerne Kreuz am Hirschensprung überschattet. Die reizende Comtesse O..., deren Geliebter mit seinem Blute die Schlachtfelder Polens färbte und jetzt in den Eisgefilden Sibiriens friert, erkauft hier in den heißen Armen des allmächtigen Günstlings, des russischen Fürsten M., seine Rückkehr, um dann, sobald er Kenntniß von dem Geschäfte hat, mit ihren eigenen seidenen, blonden Zöpfen von dem Geretteten erwürgt zu werden. Und jetzt bricht hinter dem Baume ein stämmiger Geselle mit energischen Zügen im Zwilchkittel hervor; ein verwitterter mächtiger Calabreser stülpt sich auf sein Haupt; er führt in der Rechten einen Knittel, in der Linken Gervinus' „Einleitung zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts“ – das ist Herr von Bismarck Anno 1865 in Karlsbad.

Doch steigen wir in's Thal hinab. Es ist Sonntag. Die Feuer am häuslichen Herde sind bereits erloschen; der Mittagstisch ist vorüber, die Straße bis zur Wiese hinauf belebt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_083.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2016)