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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


heilsam für das Wohl des Ganzen. Die Theorien der Schule von Manchester dominiren segensvoll in der modernen Volkswirthschaft, und ihre Gegner sind noch in der Minorität. Aber Principienreiterei und Doctrinarismus sind böse Dinge. Eines schickt sich nicht für Alle, und einer Doctrin zu Liebe die Bühne vollständig zum Gewerbe herabzuwürdigen, das war jedenfalls – der Erfolg hat es gelehrt – eine recht schlimme Principien-Reiterei. Daß die Bühne dem Volke in ethischer und ästhetischer Beziehung viel zu sein vermag, dafür ist uns Schiller Bürge, und es ist noch Keiner aufgestanden mit dem Wagniß, den größten Verfechter ihrer Würde Lügen strafen zu wollen. Man darf den Gedanken verwerfen, daß der Staat dem Theater zur Erreichung seiner der Volkswohlfahrt dienenden Zwecke seine directe Hülfe gewähren und daß er die Bühne mit Strenge bevormunden müsse, aber man kann verlangen, daß er einer Institution, welche am letzten Ende volksbildend und volksveredelnd wirken kann und sollte, einen Schutz angedeihen lasse, wie er ihn Unterrichtsanstalten und Kunstakademien nicht versagt. Thun das Staat und Gesetzgebung nicht, so haben Beide die Hauptschuld zu tragen, wenn das deutsche Theater seinem eigentlichen Zwecke täglich fremder wird. In genauer Consequenz der staatlichen Ansicht ist das Theater nichts weiter als eine Vergnügungsanstalt niederen Ranges, ein Gewerbe, aber keine Kunst.

In Folge der Theaterfreiheit schossen die neuen Theater auf wie Pilze nach dem Regen. Die meisten dieser Institute waren indessen von sehr unsolider Natur. Es war so leicht Theaterdirector zu werden. Ging das „Geschäft“ nicht und waren Privatmittel beim Unternehmer – wie fast immer – nicht vorhanden, so „machte er die Bude zu“ und überließ es einer mehr oder minder großen Zahl von armen Mitgliedern aussichtslos zu processiren und einige Zeit am Hungertuche zu nagen. Nicht als ob die Gesetzgebung hierin nicht vorgebeugt hätte; die Paragraphen 32 und 53 der Reichs-Gewerbe-Ordnung enthalten diesbezügliche Bestimmungen zum Schutze gegen unfähige und unsolide Directoren; aber die betreffenden Behörden handhaben diese Paraphen durchaus ohne die nöthige Strenge.

Es ist nicht zu leugnen: die Errichtung so vieler neuer Theater steigerte die Nachfrage nach dem ausübenden Künstler ganz bedeutend und trieb die Gehalte zu noch nicht dagewesener Höhe. Ueber die großen Gagen hätten sich die deutschen Schauspieler freuen können, wenn man sie ihnen auch wirklich gezahlt hätte. Das Ungesunde des ganzen Zustandes zeigte sich indessen auch hier. Zahlungseinstellungen und Verkümmerungen des Gehaltes waren in allen möglichen Formen an der Tagesordnung. Außerdem schuf aber die Theaterfreiheit ein Schauspielerproletariat, wie es in solchem Umfange niemals vorhanden gewesen ist. Es kamen durch die gesteigerte Nachfrage nach ausübenden Künstlern und durch die Gewissenlosigkeit vieler Theateragenten Elemente zum Theater, die ihm geradezu zur Schande gereichten. Diese Leute suchten bei der Bühne nur das arbeitslose Bummelleben, brachten weder Bildung noch Talent mit und dienten nur dazu, den Stand innerhalb der Gesellschaft bloßzustellen und zu entwürdigen. Rauchtheater, Rechtsunsicherheit, ein neugeschaffenes Schauspielerproletariat und ein Virtuosenthum, wie es sich noch nie so schamlos geberdet hatte – das waren die directen Segnungen der Theaterfreiheit.

Man wird gestehen müssen, die Verhältnisse des deutschen Theaters und seiner Angehörigen lagen recht im Argen. Aber aus denselben Principien, die Beide so schwer geschädigt hatten, sollte auch eine Hülfe erwachsen, die Vieles wieder gut zu machen im Stande war. Die Theorien der Schule von Manchester enthielten das Besserungsmittel der bestehenden Zustände; sie selbst gaben die Mittel an die Hand, ihre irrige Anwendung zu bekämpfen.

Der Mann, der mit warmem Herzen und durchgreifender Energie zur rechten Zeit das Rechte recht zu thun verstand und dadurch die bedeutendsten Verdienste um die deutsche Bühne und ihre Angehörigen sich erwarb, ist der Schauspieler Ludwig Barnay. Schon seit Jahren waren seine Wünsche und Bestrebungen der guten Sache zugewandt, aber immer ohne Erfolg. Da, im Frühjahre 1871, kam der rechte Geist und die rechte Stunde zum guten Werke. Er selbst sagt in dieser Beziehung sehr treffend: „Da wehte in diesem Frühjahre Einheitsodem durch Deutschland. ‚Ein deutsches Reich ersteht wieder‘! schallte es durch die Lande, und höher schlug Jedem das Herz, uns Thalienjüngern wahrlich nicht weniger als jedem andern Bürger. Viele unserer Berufsgenossen verspritzten ihr Blut auf dem Schlachtfelde für das Vaterland und seine Ehre; Wenige von ihnen kämpften um den Besitz, denn wenige unter uns sind Besitzende, und doch kämpften sie auch für die speciellen Interessen unseres Standes, denn die Zerrissenheit unseres deutschen Vaterlandes trug die erste und größte Schuld an der Zerrissenheit unserer Theaterverhältnisse. Jetzt oder nie – klang es in mir – werden die deutschen Schauspieler, erwärmt von der Einheitssonne, die dem Vaterlande leuchtet, zusammentreten und ihre eigenen Interessen in’s Auge fassen; habe ich es nur erlebt, sie einmal und zum ersten Male in einen Saal zusammenzubekommen, um gemeinschaftliche Interessen selbstlos, gerecht und wohlwollend zu berathen, dann ist mir für das Gähren und Reifen des gesunden Urstoffs nicht bange.“

Der Initiative Barnay’s gelang es, ein provisorisches Comité zu gründen, welches die Einberufung eines „Allgemeinen deutschen Bühnen-Congresses“ veranstalten sollte. Dem begeisterten Agitator schlossen sich die Mitglieder dieses Comités, Dr. Krückl, Ulram, Gettke, ferner Bletzacher, Vollmer, Köller, Jacobi, Borchers, Siehr, Löwe, Dr. Hugo Müller, Salomon, Savits u. A. an. Barnay fand die Möglichkeit, ein Organ für die Sache in’s Lehen zu rufen. Gratis wurde es in Tausenden von Exemplaren an die Berufsgenossen in Deutschland versandt. Die darin ausgesprochenen Gedanken zündeten allerwärts. Die Idee war da, und die herzenswarme Hingabe Aller ermöglichte den „Ersten allgemeinen deutschen Bühnen-Congreß“ in Weimar am 17., 18. und 19. Juli 1871. – Wahrlich, diese Tage werden unvergeßlich bleiben in der Geschichte des deutschen Theaters. Es waren große Momente voll reinster Begeisterung, als die Vertreter der deutschen Schauspieler zum ersten Male vereinigt waren auf heiligem Boden, an den Särgen unserer Geistesheroen in der Fürstengruft, als sie in später Abendstunde huldigend zum Standbilde der Herrlichen zogen. Und als sie wieder hinausgingen in alle Welt, da brachten sie ihrem Stande das ersehnte Ergebniß einer gesegneten Arbeit mit: die Errichtung einer Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger und die sichere Aussicht auf eine Pensions- und Altersversorgungsanstalt.

Hatte der Congreß zu Weimar unter dem Präsidium des verdienstvollen Hugo Müller die Grundzüge des zu Erstrebenden festgestellt, so waren es wiederum die Delegirtenversammlungen in Kassel, Leipzig und Dresden, welche durch definitive Gründung der allgemeinen Pensionsanstalt deutscher Bühnenangehöriger, durch Berathung und Sanctionirung des Statuts und dessen Revision und Modification den Ausbau vollzogen. Von Wichtigkeit war die Annahme eines mit dem „Deutschen Bühnenvereine“ zu Stande gekommenen einheitlichen Contractsformulars. Diese Vorlage wurde, wenn nicht freudig, so doch achtungsvoll als ein Fortschritt zum Bessern begrüßt. Freudig konnte sie nicht begrüßt werden, denn es war nicht möglich gewesen, die Gegenseitigkeit des Kündigungsrechtes und der Conventionalstrafe für den Contractbruch zu erlangen. Das sind aber gewissermaßen naturrechtliche Forderungen der Bühnenangehörigen, und der schließliche Sieg dieser Forderungen dürfte nur eine Frage der Zeit sein.

Ein nicht minder wichtiger Gegenstand fand ferner Erledigung. Die Mehrzahl der deutschen Bühnenangehörigen seufzt schwer unter dem Treiben der meisten Theateragenturen. Die Delegirtenversammlung beschloß deshalb die Errichtung einer „Genossenschafts-Theateragentur“ nur für Mitglieder der Genossenschaft. Die Ansicht, die Benutzung dieser Agentur obligatorisch zu machen, erhielt nicht die Mehrheit. Der Beginn der Emancipation hat sich indessen vollzogen, und es war weise, gerade diese Angelegenheit nicht zu überstürzen. Es wird an den Mitgliedern der Genossenschaft selbst liegen, durch Benutzung ihres Agenten jenen Theateragenturen, welche oft in geradezu gemeiner Weise arbeiten, den Garaus zu machen.

Das eingreifendste Ereigniß der Dresdener Decembertage war aber die Errichtung einer Wittwen- und Waisen-Pensionsanstalt. Schon in Leipzig hatte ein Statut zu diesem Zwecke vorgelegen. Man hatte aber dort den Entwurf zu nochmaliger Berathung einer Commission übergeben. Diese Commission wandte sich an den berühmten Versicherungstechniker Johannes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_095.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)