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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Wetter erlaubte, in ruhigem Gange, die Zeitung im Gehen lesend, die Straße heraufkam, um sich am protestantischen Bier in ketzerischer Gesellschaft zu erlaben. Wie Viele würden das heute noch thun?

Einige Male wurden unsere kindlichen Augen in Staunen gesetzt durch seltsame, für uns unverständliche Menschen, welche das Dorf passirten: es waren Karawanen von frommen Pilgern, welche von der heiligen Dreifaltigkeitskapelle kamen. Ihre Gebete murmelnd, vom Gebet plötzlich zu Gesprächen über die gewöhnlichsten Dinge überspringend und sogleich den Gebetsfaden wieder aufnehmend an der Stelle, wo er abgebrochen worden war, so zogen sie meistens in großen Zügen, Männer und Weiber, durch das Dorf. Wir Kinder bettelten sie an um „Herrgöttli“, und mit großer Bereitwilligkeit gaben sie dem Einen ein aus Teig gebackenes Lämmlein, dem Andern einen Spruch, dem Dritten ein Kreuz, und vergnügt sprangen wir mit den Gaben nach Hause.

Ich glaube nicht, daß Jemand eine glücklichere Kindheit verlebt habe, als sie mir zu Theil geworden ist. Wenigstens liegt sie heute in meiner Erinnerung wie eine Landschaft voll Sonnenschein. Ich wollte, ich wäre ein Dichter und könnte all den Zauber in Worte fassen, der auf jenen Tagen der Vergangenheit lag, da, um mit den Worten des orientalischen Dichters zu sprechen, die Leuchte des Allmächtigen über dem väterlichen Dache stand, da die Schritte badeten in Sahne und Ströme Oeles neben mir der Fels ergoß. Ich spüre wohl einige Kügelchen von dem schweren Blute Schopenhauer's in meinen Adern, aber wenn ich mir die Freude an den Dingen, den Glauben an die Menschen, die frische Heiterkeit des Gemüthes unter allen Anfechtungen gerettet habe, so ist das zum größten Theil wohl ein Erbstück aus den Tagen der Kindheit. Auch giebt es ohne Zweifel nicht leicht eine gesundere Luft für die freie Entfaltung der körperlichen und geistigen Kräfte, als die Luft eines protestantischen Landpfarrhauses: man wächst in den Sitten und Stimmungen der höheren Gesellschaft auf und bleibt doch der Natur so nahe, man erbt mit der Richtung des Geistes auf das Ideale den gesunden Menschenverstand und die natürliche Empfindung des schlichten Mannes.

Als ich in’s Elternhaus eintrat, waren schon drei Brüder und vier Schwestern da, der älteste Bruder war schon auf die Lateinschule fort und der zweite folgte ihm bald nach; so wuchs ich mit vier Schwestern und einem zwei Jahre älteren Bruder auf. Der Vater war eine ernste, einsame, meditirende Natur. Ursprünglich von einem nicht geringen geselligen Talent und mit einer vortrefflichen Unterhaltungsgabe ausgestattet, die er auch bei Gelegenheit noch spielen ließ, hatte er auf den drei Dorfpfarreien, die er, von geringeren zu höheren und besserbesoldeten aufsteigend, nacheinander bezogen hatte, beraubt aller geistansprechenden Gesellschaft, die Gewohnheit des einsamen, auf sich selbst gestellten Weisen angenommen. Wir sahen ihn selten anders als in Gedankenarbeit begriffen, die oft so lebhaft war, daß er die inneren Bewegungen, die Dialektik der Begriffe in seinem Geiste durch Gesticulationen der Hände und des Mundes anzeigte. Sei’s, daß er seinen täglichen Spaziergang weit über das Dorf hinaus machte oder Stunden lang im Schlafrock und mit der langen Tabakspfeife im Garten auf- und abging, oder des Abends beim Kruge Bier, den er sich regelmäßig aus dem Wirthshaus holen ließ – denn dahin ging er nur in Ausnahmefällen – am Fenster saß, wir sahen ihn fast immer lesen oder über etwas nachsinnen. Darin störte ihn auch der wildeste Kinderlärm nicht, und meistens hörte er nicht, was um ihn geredet wurde. Wenn wir Knaben, die einander immer neckten und plagten, uns etwa einmal an ihn wandten und klagten: „Der W. hat mich geschlagen, der H. hat mich ausgemacht (verhöhnt),“ da konnte er uns mit der Antwort entlassen: „Schlag Du ihn wieder, mach’ Du ihn ein!“ und man sah auf seinem Gesichte den unangenehmen Eindruck der Störung seiner Gedankenkreise.

Er hatte gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts seine theologischen Studien mit einem glänzendem Examen abgeschlossen, welches ihm die Anwartschaft auf die besten geistlichen Stellen des Landes verschaffte. Damals war Kant der König im Reiche der Geister, und auch die Theologie hatte nach einigem Widerstreben sich seinem Scepter gebeugt. Nach Kant war die Religion der Gehorsam gegen das Sittengesetz als gegen Gottes Gebot; ihr ausschließlicher Zweck war die moralische Besserung der Menschen; mit kühner Kritik hatte er in seiner „Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft“ Alles, was diesem moralischen Zweck nicht diente, als Afterdienst aus dem Gebiete der Religion verwiesen. Das konnte sich eine protestantische Theologie und Kirche wohl gefallen lassen, wenn nur die Welt der kirchlichen Glaubensvorstellungen in ihren wesentlichen Grundlagen nicht angetastet wurde. Das schien auch durch die Philosophie Kant’s nicht zu geschehen.

Man erschrak wohl anfangs, als er erklärte, daß es keine Erkenntniß des Uebersinnlichen gebe, weil nach der Einrichtung des menschlichen Denkvermögens nur Gegenstände der Anschauung Gegenstände der Erkenntniß werden können. Aber Kant hatte den aus dem Gebiete der Wissenschaft verbannten übersinnlichen Dingen wieder eine moralische Hinterthür geöffnet: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, hieß es, sind zwar nicht erkennbar, und wenn sich die Vernunft in diese Welt des Uebersinnlichen versteigt, so geräth sie in’s Wolkentreten und verflicht sich in unauflösliche Widersprüche. Aber diese Dinge sind doch; denn das Gewissen fordert sie, unser moralisches Bewußtsein, die Welt unserer Sittlichkeit, die uns unmittelbar gewiß ist, wird nur möglich unter Voraussetzung jener übersinnlichen Wirklichkeiten. Damit war der Religion ihre Glaubenswelt wieder geschenkt, und Theologie und Kirche schien sich auf dem so geebneten Boden wieder von Neuem anbauen zu können. Und wie gut traf es sich doch – so fuhr diese Theologie weiter fort zu schließen – wenn Gott uns über dasjenige, was der Vernunft verschlossen ist, seine Offenbarung geschenkt im alten und neuen Testamente! Und was sollte denn die Vernunft dagegen einzuwenden haben, daß Gott in einem Zeitpunkte, da die Moralität unseres Geschlechts zu tief in den Sumpf gerathen war, um sich wieder herauszuhelfen, ein Außerordentliches that und durch ein wunderbares Einwirken, wie es in der Sendung Jesu vorliegt, die Moralität wiederherstellte? Wenn sich nur nachweisen läßt, daß diese außerordentlichen Vorrichtungen dem moralischen Zwecke dienen und darum vernünftig sind! Das war freilich bei vielen dieser alt- und neutestamentlichen Wundererzählungen sehr schwer nachzuweisen, aber was vermag man nicht, wenn man will und muß! Jedoch, woher wissen wir denn, daß diese Dinge wirklich geschehen sind, daß diese Aufschlüsse wirklich von Gott kommen? Das glaubte man durch ein sehr einfaches und vernünftiges Verfahren herauszubringen. „Die Apostel sagen’s, und die Apostel waren Augenzeugen, sie konnten also die Wahrheit sagen; und sie waren rechtschaffene und redliche Menschen – diesen Eindruck erhält Jeder von ihnen – folglich wollten sie auch die Wahrheit sagen.“

Mit diesen Anschauungen und Ueberzeugungen trat der Theologe von der Universität weg freudig in den Dienst der Kirche. Denn in dem Gegenstande des Glaubens war er einig mit dem Glauben seiner Gemeinde, und er war einig mit sich selbst, denn er hatte seinen Glauben vor seiner Vernunft gerechtfertigt, und der Zweck, Tugend und Frömmigkeit unter seinen Mitmenschen zu verbreiten, war so so rein und schön. Aber siehe da! während der Pfarrer mit Freudigkeit im Frieden seiner Gemeinde wirkte, gingen in der großen Welt des Geistes die eingreifendsten Umwandlungen vor sich. Klopstock. der noch die Jugend unserer Väter genährt hatte, gerieth in Vergessenheit, und auf der von Lessing eröffneten Bahn trat eine neue Nationalliteratur mit Stürmen und Brausen auf den Plan. Hegel nahm die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts auf und zugleich in die Zucht des strengen Gedankens und verkündigte sein Reich des absoluten Geistes. Schleiermacher grub nach den verschütteten Quellen der Religion und warf die christliche Glaubenslehre in den Schmelztiegel des frommen Selbstbewußtseins, aus welchem sie bei aller schonenden Vorsicht des Meisters doch grundsätzlich umgewandelt hervorging. Strauß sprach das Geheimniß der neuen Philosophie aus und legte die evangelischen Berichte unter das Messer der Kritik.

Diese neuen Ideen gründlich aus den Quellen studiren und sich mit ihnen auseinandersetzen, das hätte geheißen, alle seine bisherigen Waffen wegwerfen und seine ganze Bildung von Neuem anfangen, aber es hätte auch geheißen: jung und frisch und freudig bleiben bis in’s Alter. Das war zu viel für einen Mann, der sich auf die praktische Wirksamkeit unter einfachen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_098.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)