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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

etwas die Bedürfnisse seines Magens zu stillen suchte. Auf dem Wege zwischen Wiesbaden und Mainz begegnete er übrigens zum ersten Male seinem vorher nie gesehenen und nur an der Familienähnlichkeit und nach den Schilderungen der Mutter von ihm erkannten älteren Bruder, dessen einst so kräftiger Geist leider schon in unheilbarem Wahnsinn gebrochen war.

Kaum noch dem Jünglingsalter entwachsen, stand Dessoir auf der Höhe des Ruhmes. Der eigentliche Ausgangspunkt seines Rufes wurde Leipzig, wo er von 1834 bis 1836 unter Ringelhardt sein erstes festes Engagement fand. Hier wurden seine Leistungen von Heinrich Laube, dem damaligen Redacteur der „Zeitung für die elegante Welt“ eingehend und anerkennend gewürdigt, hier durfte er bereits an die Begründung eines eigenen Herdes und Heims denken. Bei seinem Eintreffen in Leipzig fand er Fräulein Therese Reimann an der dortigen Bühne engagirt, eine bei Publicum und Kritik gleich beliebte Schauspielerin. Sie flößte ihm eine so heftige Leidenschaft ein, daß er, nach seinem eigenen Geständnisse, wie sein älterer Bruder, dem Wahnsinne würde verfallen sein, hätte er sie nicht heirathen können. Im Jahre 1835 vermählte er sich mit der Geliebten, doch wurde diese namenlos unglückliche Ehe, aus welcher sein Sohn Ferdinand Dessoir (jetzt Schauspieler am Hoftheater zu Dresden) stammt, schon nach einjähriger Dauer getrennt. Von Leipzig ging Dessoir 1836 zu kurzem Engagement nach Breslau, von dort ein Jahr später nach Pest, von wo er 1839 an das Karlsruher Hoftheater berufen wurde. Hier war er zehn Jahre hindurch thätig, bis der Badische Aufstand die Schließung des Hoftheaters gebot. Durch Professor Rötscher’s Vermittlung trat er am 1. October 1849 in den Verband des Berliner Hoftheaters, auf welchem er schon zwei Jahre früher gastirt hatte, und welchem er fortan bis zu seiner Pensionirung, 1. October 1872, dauernd angehörte.

Was er in diesen dreiundzwanzig Jahren auf der Berliner Hofbühne gewirkt, das sichert seinem Namen einen der ehrenvollsten Plätze in der Geschichte des deutschen Theaters. Und gerade hier den höchsten Ruhm zu erringen, war Arbeit doppelter Energie. Warfen doch auf diese Bretter die Gestalten zweier noch nicht allzu lange heimgegangener Meister ihre gigantischen Schatten. Ludwig Devrient und Karl Seydelmann, stand doch auf diesen Brettern ein neuer, epochemachender Genius in der Vollkraft seines Schaffens: Theodor Döring. Aber weder die Erinnerung an die großen Todten, noch die Nebenbuhlerschaft des lebenden Meisters beeinträchtigen Dessoir’s Ruhm. Auf eigenen, selbstständigen Bahnen schritt er hinauf zur Höhe seiner Kunst, und die liebende Bewunderung der Mitwelt wußte ihn dort auch dann noch festzuhalten, als ihm selbst die physischen Kräfte versagten. Ja, der begeisterte Biograph Seydelmann´s, Professor Rötscher, war der Ersten Einer, welcher der ehrfurchtsvollen Menge zu wissenschaftlichem Bewußtsein brachte, daß in Ludwig Dessoir ein neuer Genius erstanden, werth, nach dem höchsten, von Todten und Lebenden entnommenen Maßstabe gemessen zu werden.

Oft genug wurde in fetten Jahren bei den Theaterenthusiasten die Frage erörtert, wer von beiden der Größere sei, Theodor Döring oder Ludwig Dessoir. Aber ohne die Genannten in weitere Parallele mit dem Dioskurenpaare unserer classischen Dichtung setzen zu wollen, hätte man auch diesen Streit mit dem bekannten, derben Ausspruche Goethe’s abweisen können. Man solle doch nicht streiten, wer größer sei, er oder Schiller, sondern sich überhaupt freuen, daß zwei Kerle da seien, über welche es solchen Streites lohne. Und in der That, wie der Eine jener Heroen nicht den Ruhm des Anderen beeinträchtigt, so prangt der Lorbeer um Döring’s Haupt nicht minder voll und frisch, weil auch Dessoir einen reichen Kranz mit sich hinabgenommen in die Gruft.

Und doch hatten die beiden großen Nebenbuhler des Berliner Hoftheaters das eine Gemeinsame, daß Keiner von ihnen Künstler des einfach Schönen war. Letzteres wurde unter den Darstellern jener Epoche auf dem Berliner Hoftheater vielleicht am glücklichsten durch Hermann Hendrichs vertreten. Bei Dessoir fand immer ein Ueberragen des Ideellen über das Bildliche, Sinnliche statt, er ist der geborene Darsteller des Erhabenen. Bei Döring findet stets ein Ueberragen des Bildlichen, Sinnlichen über das Ideelle statt; er ist der geborene Darsteller des Komischen.

Dieses Ueberwiegen des Ideellen, Geistigen machte Dessoir zum gefeiertsten Liebling der Gebildeten, der Gelehrten. Wohl wußte er auch die Menge durch die dämonische Kraft seiner Leidenschaft hinzureißen, aber er blieb vorwiegend der Bewunderte auserwählter Kreise. Seinen höchsten Ruhm hat er als Shakespearedarsteller errungen, und sein Othello, welchen er 1853 gelegentlich eines Gastspiels in London spielte, wurde selbst von der englischen Presse neben und über die Leistungen von Edmund Kean, Maeready und Brooks gesetzt.

Ueber das äußere Leben des Heimgegangenen habe ich nur Wenig nachzutragen. Im Jahre 1844 hatte er sich zum zweiten Male, mit Fräulein Helene Pfeffer, der Tochter eines hochansehnlichen Pester Hauses, vermählt. Auch diese Ehe scheint keine glückliche gewesen zu sein. Dessoir selbst hat mir oft gestanden, daß er immer von einer fast wahnsinnigen Eifersucht gewesen sei, und daß der bloße Gedanke, sein Weib könne von einem anderen Manne mit begehrendem Auge angesehen werden, ihn beinahe rasend machte. Sich selbst und seiner Gattin bereitete er durch diese Eifersucht viele trübe Stunden, und das Glück der Ehe wurde völlig zerstört, als die beklagenswerthe Frau im Jahre 1859, beim Tode ihres einzigen Kindes in unheilbaren Wahnsinn verfiel. Sie lebt noch heute in der Landesirrenanstalt zu Ofen.

Dessoir konnte es nicht über sich gewinnen, die Ehe gerichtlich scheiden zu lassen. Besonders hielt ihn die warme Liebe zu seinem Schwager Ignaz Pfeffer, welchen er stets mit wahrer Verehrung als den edelsten der Menschen rühmte, von solchem Schritte zurück. Freilich entfremdete er sich seelisch und leiblich immer mehr und mehr der irrsinnigen Gattin.

Von den drei überlebenden Söhnen des Künstlers führen nur zwei den berühmten Namen Dessoir. Einer derselben, der oben erwähnte Ferdinand, ist bereits ein gefeierter Schauspieler; daß der Zweite, Max, es werden möge, war der lebhafte Wunsch des Vaters. Max Dessoir, gegenwärtig Schüler des Berliner Wilhelmsgymnasiums, war der Liebling des Verstorbenen und dürfte ihm auch in der äußeren Erscheinung am ähnlichsten werden. Den älteren der beiden illegitimen Söhne Dessoir’s, welcher auf den Namen Emil getauft ist, und jetzt etwa fünfzehn Jahre alt sein mag, kenne ich nur wenig. Er lebt gegenwärtig in Berlin, wo er sich der Handlung widmet. Der kleine Max spielte häufig genug unter dem stolzen Lächeln des Vaters zu unseren Füßen, wenn wir uns in langen Gesprächen über die Aufgaben und Gebilde der dramatischen Kunst unterhielten.

Bei seiner treuen Haushälterin Auguste Grünemeyer, der Mutter seines jüngsten Sohnes Max, fand Dessoir für seine letzten Lebensjahre die Pflege und liebevolle Hingabe, deren er so sehr bedurfte. Hatte er doch nie an einem wilden Wirthshausleben nach Ludwig Devrient´scher Manier Gefallen gefunden, liebte er doch stets ein geordnetes, behagliches Hauswesen, verlangte doch seine außerordentlich sensible Natur immer nach einem regelmäßigen Einerlei des täglichen Treibens. Letzteres wurde ihm zu besonders dringendem Bedürfniß, seit ihm im November 1867 heftige Nervenzufälle die vollkräftige Ausübung seiner Kunst unmöglich machten. Seitdem lebte er, ein Schatten seiner einstigen Größe, sich selbst zur Last.

Aber er mußte spielen, da er ohne Vermögen war und sein Contract ihn zu keiner Pension berechtigte. Es gereicht Herrn Generalintendanten von Hülfen zu großer Ehre, daß er, um dem Künstler die Demüthigung eines Gnadengesuches zu ersparen, aus freien Stücken im Jahre 1872 einen neuen Contract mit Dessoir abschloß, wodurch demselben eine Pension von zweitausend Thalern jährlich gesichert wurde. Am 1. October 1872 trat Dessoir denn auch, mit Beziehung der bezeichneten Pension, in den wohlverdienten Ruhestand.

Fortan lebte er ganz zurückgezogen mit seiner Haushälterin und seinem Max. Sein alter, ihm wenige Wochen in den Tod vorangegangener Schul- und Jugendfreund Louis Czarnikow, sein trefflicher Vetter Ludwig Eichborn, der als Dichter des „Timoleon“ und „Lorenzino von Medici“ bekannte, jetzt in Leipzig ansässige Dr. Hans Marbach und der Schreiber dieser Zeilen waren fast die einzigen vertrauten Freunde, welche er in den

letzten Jahren bei sich sah. Das Theater hat er fast nie mehr besucht, von seinen Collegen fand fast keiner zu ihm. Und doch,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_110.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)