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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


mit Salbung tanzen, so wird auch die andere Hälfte, mit Einschluß der Herren Pastoren, ihnen am Ende nicht gram sein dürfen. Und nun wollen wir uns nicht mehr mit Empfehlungen und Entschuldigungen meiner Freunde aufhalten, sondern stracks in die Sache selbst hineinspringen.

Als ich mich im Herbst 1851 zu Dayton im südlichen Ohio aufhielt, hörte ich unter andern curiosen Dingen auch, daß nicht weit von der Stadt eine Ansiedelung von Shakern sei.

Es war am Nachmittage des 3. October, als ich meinen Entschluß in’s Werk setzte und nach ungefähr zweistündiger Wanderung, meist durch schönen Laubwald, vor meinem Ziele anlangte. Das Volk nennt die Niederlassung, die südöstlich von Dayton an einer Seitenstraße der nach Cincinnati führenden Chaussee liegt, schlechthin „Shakertown“, Shakerstadt, während sie auf der Landkarte Watervliet heißt. Sie befindet sich inmitten einer weiten Rodung im Walde, durch die sich ein kleiner Bach, der Beaver-Creek, von der Hügellehne herabschlängelt, und besteht aus einer Gruppe von Häusern und Häuschen, die von wohlbebauten Mais- und Weizenfeldern und einem weitläufigen Garten mit Apfel- und Pfirsichbäumen umgeben sind. Die kleineren Gebäude, theils Blockhütten, theils Bretterhäuser, sind mit schreienden Farben, eines eigelb, zwei oder drei schneeweiß, eines maigrün, angestrichen. In dem Hauptgebäude, einem ziemlich großen Hause von rothen Backsteinen mit einem grauen Schindeldache, das ungefähr die Mitte der Gruppe einnahm, vermuthete ich die eigentliche Wohnung der Gemeinde, und so lenkte ich meine Schritte dahin.

Das Bild der „Shakerstadt“ war freundlich, aber nicht schön. Ihre Bewohner waren offenbar nüchterne poesielose Leute. Dem Garten fehlten Blumen, Strauchwerk und Schattenbäume; die Häuser zeigten nicht einmal den Versuch zu einer Verzierung. Der Friedhof am Wege war nichts als ein verwilderter Grasfleck; die Gräber hatten weder Hügel noch Denksteine mit Bildwerk oder Inschriften und waren nur mit rohen Platten, wie man sie auf dem Felde daneben gefunden haben mochte, als solche bezeichnet.

Unbehaglich, fast unheimlich war das tiefe Schweigen, das ringsum herrschte. Es war erst drei Uhr Nachmittags und die ganze Gegend so völlig ruhig und einsam, als ob es Mitternacht gewesen wäre. Eine stille Kuhheerde weidete innerhalb einer Umzäunung; sonst war weit und breit kein lebendes Wesen zu sehen. Kein Laut ließ sich hören als das leise Murmeln des Baches und – halt! doch etwas Menschliches – das Klappern eines fernen Webstuhles, das aber auch das Hacken eines Spechts im nahen Walde sein konnte. Wäre das Hauptgebäude, vor dem ich endlich anlangte, stattlicher gewesen, so hätte ein Tourist, phantasievoller als ich, ohne Zweifel an ein verzaubertes Schloß gedacht – wenigstens in seinem späteren Berichte. Mir war es mit seiner unromantischen Nüchternheit und seiner anscheinenden Ausgestorbenheit nur ein peinliches Geheimniß, das durch die erste Begegnung mit einem der Bewohner dieser stillen Welt eben nicht minder peinlich wurde.

Ich mochte fünf Minuten vor der Thür gestanden haben, als ich aus dem Walde hinter dem Hauptgebäude einen Mann in Shakertracht auf mich zukommen sah. Er trug einen Strohhut mit so breitem Rande, daß man einen Brunnenmund damit hätte zudecken können, einen graublauen Rock, der hinten unmittelbar unter dem Kragen kittelartig in Falten gelegt war, und gewöhnliche Beinkleider von derselben Farbe. Als er näher kam, sah ich ein bleiches, faltiges Gesicht und hohle, düstere Augen. Den Kopf gesenkt, die Hände auf dem Rücken, schien er, ohne mehr als flüchtig Notiz von mir zu nehmen, scheu an mir vorüber zu wollen. Ob er sich ein neues Dogma überlegte oder eine Predigt memorirte? Ob alle Shakers daheim so in sich gekehrt, so ungesellig, so griesgrämig einherwandelten? Zu der Stille ringsum hätte es gepaßt, aber ermuthigend für mich war es nicht. Wie, oder war der finstere Träumer etwa tiefsinnig, gestörten Geistes, daß er meinen Gruß nicht beachtete? „Das fängt schön an,“ sagte ich zu mir, als ich, durch seine Unhöflichkeit nicht abgeschreckt, wenn auch ein wenig verlegen, die Frage an ihn richtete, ob man hier eintreten und von der Einrichtung des Hauses und seiner Insassen Kenntniß nehmen dürfe, und nur ein unverständliches Brummen zur Antwort erhielt.

Indeß kam es besser, als ich nach diesem ersten Auftritte der Tragikomödie, die mit dem Erscheinen des Blaugrauen begann, hoffen konnte. Der Wahnsinnige – das war er, wie ich später erfuhr, in der That – verschwand um die Ecke, und aus der Thür trat ein zweiter Shaker mit einem freundlichen, breiten, rothen Gesicht, in Hemdsärmeln, kaffeebrauner Schoßweste und gleichfarbigen Hosen. Er trug keinen Hut und die grauen Haare über der Stirn kurz verschnitten und hinten lang, ungefähr wie die Deutschen im Mittelalter – eine Haartour, der ich später bei allen Männern und Knaben der Secte wieder begegnete. Ich grüßte und wurde wieder gegrüßt. Ich wiederholte ihm den Zweck meines Kommens und erhielt, nachdem er einen prüfenden Blick auf mein Gesicht geworfen und vermuthlich Gutes darin gelesen, den Bescheid, wer in der ehrlichen Absicht, ihre Lehre und ihr Gesetz kennen zu lernen, bei ihnen Einlaß begehre, sei willkommen. Es stelle sich freilich, sagte er, zu Zeiten schlimmes Volk hier ein, und so schien er denn wieder mißtrauisch zu werden. Wenigstens meinte er, die Regel erfordere, daß er über meinen Wunsch erst den Aeltesten befrage. Ich gab ihm weiteren Aufschluß über meine Person und meine Absichten, und obwohl er schwerlich begriff, daß Jemand fünftausend Meilen weit hierher kommen könne, blos um eine Secte zu studiren, vielmehr, wie dies auch sonst bei ähnlichen Leuten in Amerika vorkommt, der Meinung sein mochte, ich wolle entweder bekehren oder bekehrt werden, schien er es doch vorläufig mit mir soweit wagen zu wollen, daß er mich einließ und dann erst zum Aeltesten ging.

Wir traten durch die Hausthür in einen unten mit braunem Holze getäfelten, oben einfach geweißten Gang, dessen Fußboden gelb lackirt und der Länge nach mit schmalen Bastmatten belegt war. Rechts und links öffneten sich mehrere Thüren. Auch hier war Alles still. Nicht einmal das Picken einer Uhr ließ sich hören. Mein Begleiter klopfte an eine der Thüren zur Rechten. „Herein!“ sagte auf Englisch eine Baßstimme. Wir gingen hinein und standen in einer Stube, die wie der Gang gemalt und getäfelt war, und die außer einem großen Himmelbette und einer altmodischen Schublade an Hausgeräth nur noch einige Stühle mit Sitzen aus Spahngeflecht hatte, welche zum Theil an Pflöcken an der Wand hingen. Mein Führer stellte mich als „Freund Maurice“ einem Manne in Shakertracht vor, der, mit dem Flechten einer ähnlichen Brunnenbedeckung beschäftigt, wie sie der Wahnsinnige draußen getragen, am Fenster saß, und den er „Bruder Harmon“ nannte. Derselbe mochte ein hoher Vierziger sein und hatte eine große silberne Brille auf der Nase. Er nahm einen Schaukelstuhl von der Wand und lud mich zum Sitzen ein. Nach der Brille rechnete ich ihn zu den gelehrten Ständen; nach den ersten Sätzen des Gesprächs, das sich nach dem landesüblichen Händeschütteln entspann, glaubte ich auch zu wissen, daß ich einen Landsmann vor mir habe. Ein Deutscher, der studirt hatte, unter den Shakern – Saul unter den Propheten!

Die Vermuthung bestätigte sich, als der Andere ging, um nunmehr dem Aeltesten meine Ankunft zu melden. Wir setzten jetzt unsere Unterhaltung in der bequemeren Sprache unserer Mütter fort. Sein Dialekt bezeichnete ihn als Norddeutschen. Ich sagte ihm, daß ich Theolog sei, und er war offenbar auch vom Handwerk. Zwar gestand er das nicht ausdrücklich, aber die Art, wie er meine Fragen nach dem Glauben seiner „Denomination“ (der Ausdruck Secte ist hier verpönt, weil beleidigend) beantwortete, genügte vollständig. Ueber seine persönlichen Verhältnisse erfuhr ich zunächst von ihm nichts, als daß er sich seit dem letzten Herbste hier befand. Indeß hatte ich bald den Eindruck, daß er sich hier nicht zu Hause fühlte und daß seine Ueberzeugung von den Wahrheiten des Shakerkatechismus nicht gerade felsenfest stand. Nach einer Weile mußte er mehr Vertrauen zu mir gewonnen haben. Augenscheinlich wollte er mir etwas mittheilen, was ihn bedrückte. Aber war es nun Scham oder die Furcht, behorcht zu werden, so oft er dazu ansetzte, stockte er und sprach dann von Anderem. Dann kam es ihm wieder auf die Lippen. Er sah zum Fenster hinaus, wie um sich zu vergewissern, daß kein Lauscher da sei, und öffnete, offenbar zu demselben Zwecke, die Thür. Er war jetzt sicher in Betreff der Anderen, aber wieder schien er ungewiß geworden, ob ich sein Geheimniß wissen dürfe. Er schwieg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_113.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)