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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


einen Augenblick, heftete einen scheuen, traurigen Blick auf mich und schlug die Augen nieder. Endlich sah er auf und sagte:

„Darf ich Ihnen etwas mittheilen?“

Ich wollte ihm eben bejahend antworten, als die Hausthür ging und Schritte auf dem Gange sich hören ließen. Es klopfte, und zwei andere Mitglieder der Gemeinde traten ein, die den weithergekommenen Fremden auch sehen und begrüßen wollten. Unter diesen Umständen verschloß Bruder Harmon seine Offenbarung natürlich wieder, und wir kehrten zum Credo der Shaker, zu ihren Sitten und Bräuchen, zu ihren gesellschaftlichen Einrichtungen und Aehnlichem zurück.

Die Neuhinzugekommenen waren freundliche, gutherzige Leute, nach den Fragen aber, die sie an mich richteten, so unbekannt mit den Dingen in der Welt draußen, wie neugeborene Kinder. Sie nahmen an, ich werde die Nacht bei ihnen bleiben. Ich mußte dies eines Versprechens halber, das mich zum Abend nach Dayton rief, ablehnen, sagte aber auf ihre Bitte zu, morgen zurückzukehren und dann länger bei ihnen zu verweilen, was Bruder Harmon mit einem dankbaren Blicke beantwortete.

Als ich mich verabschiedete, erbot er sich, mich zu begleiten, vielleicht, um auf dem Wege Gelegenheit zu nehmen, mir zu offenbaren, was er durch das Hinzukommen der Brüder zu sagen verhindert worden war. Aber ich weiß nicht, wie es kam, er schien wieder den Muth verloren zu haben. Statt zu beichten, zeigte er mir nur die Gebäude der Colonie und erklärte mir ihre Bestimmung. Das maigrün angestrichene Häuschen war das Bureau des Diakons, das zugleich als Herberge für besuchende Brüder dient. Eine weißgetünchte Blockhütte enthielt Betten für profane Fremde. In einer anderen unterrichtete der freundliche Alte, der mich hereingeführt, vier Knaben. Ein größeres Gebäude war das Arbeitshaus der Schwestern. Nicht weit davon stand eine Wagenfabrik. Ein einfaches Bretterhaus ohne Thurm und Glocke war das Meetinghaus oder die Kirche der Gemeinde. Zuletzt besuchten wir noch die Färberei und die Werckstätte, wo die Shaker ihre Kleiderstoffe verfertigen, und wo ich dem einen der beiden Vorsteher der Niederlassung, dem Elder Richard Pelham, der hinter einem Webstuhl saß, vorgestellt wurde. Es war ein hageres, dunkelhaariges Männlein mit lebhaften braunen Augen, das sich sofort anschickte, mir über die Shakerreligion ausführlichen Bescheid zu geben, und als ich erklärte, aufbrechen zu müssen, wenn ich vor Dunkelwerden wieder heim sein wolle, mich dringend einlud, morgen wieder zu kommen und so lange zu bleiben, wie es mir gefiel.

So ging ich denn, ohne Bruder Harmon’s Geheimniß mitzunehmen, und so leid es mir thut, auch die Leser dürfen es aus Rücksichten auf die wirksamste Anordnung meines Stoffes heute noch nicht erfahren. Ueber acht Tage also, wenn wir uns wiedersehen und ich die Shakers habe tanzen lassen, fällt der Schleier und löst sich das Räthsel, von dem ich, um die Spannung zu steigern, hier nur noch so viel verrathen will, daß sein Kern ein tragikomischer ist. Damit der Leser aber heute nicht blos Einleitung zu sehen bekommt, will ich ihm in der Kürze berichten, was ich über die Geschichte und die Glaubenslehre der Secte in Erfahrung gebracht habe.

Die Secte der Shaker ist zu Bolton in Lancashire entstanden, und zwar aus einer kleinen Gemeinde von Mystikern, die vor ungefähr hundert und dreißig Jahren von Tage zu Tage auf die Wiederkehr Jesu hoffte. Diese Hoffnung erfüllte sich, indem 1758 Ann Lee der Gemeinschaft beitrat. Dieselbe war damals zweiundzwanzig Jahre alt, mit dem Hufschmied Stanley verheirathet und Mutter von vier Kindern. Durch glühende Frömmigkeit und bedeutende Rednergabe ausgezeichnet, sowie in unmittelbarem Verkehre mit dem Himmel stehend, nahm sie bald die erste Stelle unter den Uebrigen ein. Die Offenbarungen, die sie erhielt, wurden Glaubenssätze, und nachdem man die Vermittlerin eine Zeitlang als „geistige Mutter“ verehrt, erfuhr man, daß sie der zur Aufrichtung des tausendjährigen Reichs wiedergekommene Christus sei. Da Spott und Verfolgung nicht ausblieben, empfing Ann 1772 die Weisung, nach Amerika auszuwandern, ein Geheiß, dem sie mit ihren Anhängern zwei Jahre später nachkam. Dreißig Köpfe stark, siedelten sich die „Kinder der Mutter Ann“ in den Wäldern von Niskayuna bei Albany an, wo sie, obgleich auch hier wiederholt Verfolgung wider sie ausbrach und Ann mehrmals in’s Gefängniß wandern mußte, allmählich an Zahl wuchs, sodaß die Gemeinde nach einigen Jahren schon über tausend Seelen stark war und außer der ersten Colonie New-Lebanon bereits eine andere zu gründen begann. Auch als Ann, die „Schwester und Braut Christi“, am 8. September 1784 das Zeitliche gesegnet, breitete sich der Shakerglaube noch weiter aus. Die Ansiedelungen gediehen unter ihrer communistischen Verfassung, und gegenwärtig existiren deren achtzehn, von denen vier auf den Staat Ohio kommen. Die Gesammtzahl der in diesen Niederlassungen befindlichen Shaker soll gegen viertausend betragen, zu denen seit etwa zwei Jahren noch einige Hundert in England kommen.

Der Glaube der Shakers läßt sich kurz in folgende Sätze zusammenstellen: Sie sind Chiliasten, unterscheiden sich aber von den übrigen Secten dieser Richtung wesentlich dadurch, daß nach ihnen, während jene auf die baldige Wiederkunft Christi zur Errichtung des tausendjährigen Reiches auf Erden nur hoffen, dieses Reich bereits besteht. Im Jahre 452 nach Christo, so beweisen uns ihre Dogmatiker ebenso ausführlich, wie haarscharf, begann mit Begründung der päpstlichen Macht das Reich des Antichrists, welches nach der Offenbarung Johannis dem zweiten Auftreten des Heilandes auf Erden vorausgehen soll. Es breitete sich zur Herrschaft über die Welt aus und nahm dann seit der Reformation, die[WS 1] den „großen Drachen“ aber nicht tödtete, sondern nur in zwei Theile zerriß, allmählich wieder ab. Der göttliche Geist Christi, des „Sohnes der ewigen Mutter Weisheit“, kehrte während dieser Herrschaft des Antichrists in den Himmel zurück, um dort seine Wiederkunft „in und mit der heiligen Braut, welche die Tochter der ewigen Weisheit ist“, vorzubereiten, und als die Zeit erfüllet war, im Jahre 1747, ließ er sich auf Ann Lee herab, um durch eine zweite Erlösung der Menschheit sein tausendjähriges Friedensreich zu gründen, in dem die Sünde keine Stätte hat.

Wenn man fragt, warum er in Gestalt eines Weibes wiederkam, so antworten die Shaker: Die Sünde kam durch Adam und Eva, unsre ersten Eltern in die Welt, und zwar durch die erste Vermischung der Geschlechter. Sie kann nur durch die Wiedergeburt aufgehoben werden, und zu dieser bedarf es, wie zur leiblichen Geburt, nicht blos eines Mannes, sondern auch einer Frau. Christus steht als zweiter Adam, Ann Lee als zweite Eva am Anfang der letzten Periode der Menschengeschichte. In ihrer Ehe wird fortan Jeder, der an sie glaubt, geistig von Neuem erzeugt und wiedergeboren, und diese Zeugung und Geburt soll hinfort die einzige sein. Wer daher zu den Heiligen des tausendjährigen Reiches gehören will, hat sich alles geschlechtlichen Verkehrs, aller irdischen Liebe zu enthalten oder, um mit den Shakern zu reden, „sein Kreuz auf sich zu nehmen“. Die Welt, der Staat, die bürgerliche Gesellschaft hat mit dem Reiche Christi und der „Mutter Ann“ nichts zu schaffen; alles Weltliche ist daher nach Möglichkeit zu meiden, und so verlangt ein zweites Gebot die Trennung von den Kindern der Welt, die Ablehnung ihrer Ehren und Aemter und die Sammlung der Gläubigen in abgeschlossenen Gemeinden. Als dritte Pflicht tritt eine friedfertige Gesinnung und Haltung gegen Jedermann hinzu, die alle Anwendung von Zwang und Gewalt und selbstverständlich die Theilnahme am Kriegsdienst verschmäht. Sodann soll der Shaker nicht schwören und keine die Gleichheit der Menschen verneinenden Ausdrücke brauchen, weshalb er nicht blos keinen Titel annehmen, sondern auch Niemand mit einem solchen anreden darf. Selbst das Wort „Herr“ ist verpönt; Fremde werden mit „Freund“, Glaubensgenossen mit „Bruder“ oder „Schwester“ bezeichnet. Wie die Shaker in ihrer Ehelosigkeit den Mönchen und Nonnen der katholischen Kirche gleichen, nur mit dem Unterschied, daß in ihren Klöstern beide Geschlechter beisammen wohnen, so ähneln sie ihnen auch noch darin, daß sie kein Eigenthum haben dürfen. Wer ihrer Gemeinschaft beitritt, hört damit auf, etwas für sich zu besitzen; was sein war, geht an die Gesellschaft über, die fortan die Verpflichtung übernimmt, für seine Bedürfnisse in gleicher Weise wie für die aller andern ihrer Mitglieder zu sorgen. „Ein Leib und ein Brod“, lautet in dieser Beziehung ihr Grundsatz. Die Kirche ist eine geistige Familie, die aus den Kindern Christi und der „Mutter Ann“ besteht. Kinder haben den Willen ihrer Eltern zu thun, und diese Eltern werden hier durch die „Elders“, das heißt die Vorsteher der einzelnen Colonien vertreten, die über sich wieder das sogenannte

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: die
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_114.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)