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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Lhuys, den damaligen Minister des Auswärtigen, abgefertigt, galt daher einer unserer ersten Besuche Ledru-Rollin.

Er war damals in voller Manneskraft, von ausdrucksvollem Aeußeren; seine Gesundheit schien jedoch durch die unablässigen Aufregungen eines Revolutionsjahres etwas gelitten zu haben. Aufmerksam hörte er den Einzelheiten über die neue deutsche Erhebung zu, welche eine Hoffnung zuließe, daß der freigesinnte, festgebliebene Theil des deutschen Parlaments die Zügel der Macht werde ergreifen können. Ein brüderliches Verhältniß zwischen Deutschland und Frankreich war die Losung – unter dem klaren Bedeuten, daß keinerlei Versuch gemacht werde, Fragen über Veränderungen der Grenzen anzuregen. Gegenüber jener chauvinistischen Demokratie Frankreichs, welche stets „Zerreißung der Verträge von 1815“ forderte und Lamartine angegriffen hatte, weil er ihr darin widerstand, war ein deutliches Auftreten in dieser Sache entschieden rathsam.

Die deutschen und die italienischen Angelegenheiten drängten damals gleichzeitig einer Lösung zu. Frankreichs Verfassung besagte im Absatz 5 des Eingangs: – „Die französische Republik achtet fremdes Volksthum, wie sie ihr eigenes zu vertheidigen entschlossen ist. Sie wendet ihre Streitkräfte nie gegen die Freiheit irgend eines Volkes an.“ Im Widerspruch mit diesem Gesetz war ein französisches Heer auf römisches Gebiet gesandt worden; zuerst unter der heuchlerischen Angabe, dasselbe sei bestimmt, die italienische Sache gegen eine mögliche Erscheinung Oesterreichs oder des neapolitanischen Bourbon’s zu schützen. Die ministeriellen Blätter der Herren Drouyn de Lhuys und Odilon-Barrot flossen denn auch über von Freundschaftserklärungen zu Gunsten der Römer. Noch am 16. April hatte Herr Odilon-Barrot gesagt: „Wir wollen Frankreich nicht zum Mitschuldigen eines Umsturzes der römischen Republik machen.“

Plötzlich ließ man jedoch die Maske fallen. Herr von Lesseps, der bis dahin als diplomatischer Unterhändler benutzt worden war, um die unter der Regierung von Mazzini, Sassi und Armellini stehende Republik in Sicherheit zu wiegen, erhielt seine Abberufung. General Oudinot marschirte auf Rom – die Geschütze brüllten ein Evangelium, das nicht das der Brüderlichkeit, sondern der ingrimmigsten Feindschaft war. Die Wiedereinsetzung der weltlichen Macht des Papstes durch französische Waffen war nun der augenscheinliche Zweck.

Die römische Republik war in jenen Tagen durch den obersten Frapolli zu Paris vertreten, die ungarische Regierung Kossuth's durch die Grafen Pulszky und Ladislaus Teleki. Für alle Völker, die noch an ihrer neuerrungenen Freiheit festhielten, war es eine Lebensfrage, ob der reactionäre Feldzug gegen Rom gelingen werde; denn in diesem Falle mußte, nach dem bekannten Ausspruche und Wunsche des Grafen Montalembert, ein „Feldzug im Innern“ in Frankreich selbst folgen, wovon die Rückwirkung auf Europa im Allgemeinen nicht ausbleiben konnte. Inmitten dieser Spannung sammelten sich die Hoffnungen der Demokratie um Ledru-Rollin. Im December des vorhergegangenen Jahres war sein Name als der dritte (nach Ludwig Napoleon und Cavaignac) unter den Bewerbern um das Präsidentschaftsamt aus der Wahlurne hervorgegangen. Als Abgeordneter für die gesetzgebende Versammlung hatte er aus einer Anzahl Departements eine Million Stimmen erhalten. Die öffentliche Meinung selbst hatte ihn somit als den Rächer der verletzten Verfassung bezeichnet.

Durch den Verkehr mit ihm und anderen Oppositions-Mitgliedern, wie Savoye, Pascal Duprat, Beyer, erfuhren wir bald, wohin die Strömung trieb. Gesetzliche Abhülfe mittelst parlamentarischen Beschlusses war wohl Ledru-Rollin’s innerster Wunsch. Aber die Hartnäckigkeit und die Verblendung der heimlichen Royalisten, welche sich immer noch mit dem Gedanken trugen, Napoleon für ihre eigenen Zwecke benutzen zu können, ließ keine Aussicht auf eine solche Lösung zu. Vergebens bemühte sich der republikanische Führer, durch die gewaltige Beredsamkeit seiner Worte die Versammlung umzustimmen. Die Mehrheit schlug seinen Rath in den Wind.

Die Frage entstand nun, ob nicht ein gesetzlicher Fall für Herbeiführung einer jener Massenkundgebungen eingetreten sei, bei denen es oft an einem Haare hängt, ob sie nicht zum gewaltsamen Zusammenstoße führen. Abschnitt 8 der Verfassung lautete so: – „Die Bürger haben das Recht, sich in Vereine zusammenzuschließen, Gesuche zu stellen, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ Abschnitt 109: – „Die Nationalversammlung vertraut die Sicherheit der gegenwärtigen Verfassung und der in ihr enthaltenen Rechte dem Schutze und der Vaterlandsliebe aller Franzosen an.“ Absatz 7 des Eingangs: – „Der Bürger soll sein Vaterland lieben, der Republik dienen, sie selbst um den Preis seines Blutes vertheidigen.“

Auf Grund dieser Verfassungsbestimmungen erfolgte die Kundgebung vom 13. Juni 1849, welche eine zwanzigjährige Verbannung Ledru-Rollin’s zur Folge hatte. Ich will nicht in alle Einzelheiten jenes bedeutungsvollen Tages eintreten, sondern nur das Wesentliche hervorheben. Nachdem die Gesetzgebende Versammlung Ledru-Rollin’s Antrag, der auf Rückberufung des französischen Heeres und In-Anklagestand-Versetzung der Regierung Ludwig Napoleon’s abzielte, verworfen hatte, traten Ledru-Rollin und eine Anzahl Mitglieder der Bergpartei im „Museum der Künste und Gewerbe“ zusammen. Mittlerweile zog eine ungeheure, aber ordnungsmäßig in Reih und Glied marschirende Menschenmenge die Boulevards entlang nach dem Parlamentspalaste. Eine Anzahl Bürgerwehrmänner befand sich darunter im Wehrkleide, aber unbewaffnet. „Es lebe die Verfassung!“ „Es lebe die römische Republik!“ waren die einzigen Rufe, die ich hörte.

Es war eine tief eindrucksvolle Kundgebung. Ihre Feierlichkeit wurde durch den Umstand erhöht, daß nicht weniger als sieben Leichenzüge in den auf die Boulevards mündenden Straßen warten mußten, um nicht den Marsch der begeisterten Volksschaaren zu unterbrechen. Paris war in jenen Tagen von den Schrecken der Cholera durchwüthet. Am Morgen des 13. Juni hatte ich selbst, in rascher Reihenfolge, die Nachricht von so vielen Todesfällen in nächster Umgebung, unter Anderen von Männern, die eine Unterredung angekündigt hatten, empfangen, daß mir die Verheerungen der Pest nahe genug traten. Während der schwarze Tod so die Sichel schwang, gingen die Bürger einher, um die Verfassung zu schützen. Der tausendstimmige Gesang der „Marseillaise“ und der „Girondins“ stieg aus den Reihen empor, um welche die zu den Gräbern Wallfahrenden eine düstere Einfassung bildeten. Doch nicht Leichenzüge allein warteten in den Seitenstraßen. Auch Changarnier's Truppen standen dort, bereit, über gesetzestreue Bürger herzufallen.

Ich war an der Rue de la Paix, nahe der Madelainekirche, anwesend, als die Reiterei plötzlich aus dieser Straße heraus ihren Ansturm machte. Ein paar Sicherheitsbeamte, in dreieckigem Hut und mit blinkendem Degen, stürzten voran; doch ohne die gesetzliche Aufforderung zum Auseinandergehen zu geben. Dies kann ich mit Bestimmtheit bezeugen. Seitwärts springend, ließen diese Polizeibeamten sofort die Reiterei und das Fußvolk eine wehrlose Menge mit dem Säbel und dem Bajonnet auseinandertreiben. Die Reihen der Volksmenge waren in einem Nu durchbrochen; viele retteten sich mit Mühe vor den Hufen der Rosse. Einige Schreie: „Zu den Barricaden!“ hatten keine Folge. Manche sprangen in Verzweiflung über die Mauer, welche die Boulevards in der Nähe der Rue de la Paix einfaßt. Etienne Arago brach dabei das Bein. In einem Augenblicke waren die Fensterläden aller umliegenden Häuser geschlossen, die Thüren verriegelt. Jeder in den Straßen Befindliche war in äußerster persönlicher Gefahr.

Ich sah den Vorgang bis zu Ende. Nachdem die Boulevards von den Truppen „gesäubert“ waren, begegnete ich zufällig dem elsässischen Abgeordneten Herrn Beyer, der aus dem „Museum der Künste und Gewerbe“ kam, um sich über den Stand der Dinge zu erkundigen. Ich sagte ihm, daß Alles vorüber sei. Mit Alexander Herzen, dem russischen Schriftsteller, den ich bald darauf traf, verließ ich dann den Schauplatz des Ereignisses, um über die zerstörten republikanischen Hoffnungen nachzudenken.

Unterdessen waren auch an dem Orte, wo Ledru-Rollin und seine Freunde sich versammelt hatten, die Truppen eingedrungen. Einen Augenblick schwebten die umzingelten Volksvertreter in Gefahr, ohne Weiteres niedergeschossen zu werden. Ein Befehl war mißverstanden worden. Soldaten hatten die Gewehre bereits auf Ledru-Rollin und die anderen Mitglieder der Bergpartei angelegt. Endlich gelang es doch den Oppositionführern, das Gebäude zu verlassen, ohne zu Gefangenen gemacht zu werden. Daß Ledru-Rollin, wie seine Verleumder sagen, sich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_150.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)