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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


nicht dieselben, von denen man so häufig spricht. Man dichtet den Franzosen gar manche Gebrechen an, während man von den Gebrechen, an denen sie wirklich leiden und durch die sie sich schon oft dem furchtbarsten Verderben ausgesetzt, selten oder niemals redet.

Man spricht oft von dem Leichtsinn der Franzosen, ohne zu bedenken, daß der Leichtsinn keine große Nation schafft und daß Frankreich viele Jahrhunderte daran arbeitete, um aus den celtischen, römischen und germanischen Elementen eine Nationaleinheit von bewundernswürdiger Gleichartigkeit herzustellen. Durch Leichtsinn läßt sich ein so schweres Werk gewiß nicht vollbringen. Der Franzose ist nicht leichtsinnig, er ist leichtlebig. Ein unermüdlicher Arbeiter, ist er sehr mäßig und sehr sparsam. Diese Eigenschaften, welche ihm selbst von seinen eifrigsten Feinden zuerkannt werden, zeigen doch gewiß von keinem Leichtsinn; sie erklären vielmehr Frankreichs außerordentlichen Reichthum, der die Welt in Erstaunen setzt. Der Franzose schafft darauf los, um sich im reiferen Mannesalter als Rentier zurückziehen zu können, und in dieser Hoffnung ist er darauf bedacht, etwas bei Seite zu legen. Man bedenke auch, wenn man von dem Leichtsinn der Franzosen spricht, daß über die Hälfte der französischen Bevölkerung sich mit Ackerbau beschäftigt, und kein Geschöpf auf Erden ist weniger leichtsinnig als der französische Bauer. Er arbeitet unausgesetzt im Schweiße seines Angesichts, um mit dem ersparten Gewinn den einzigen, den ausschließlichen Zweck seines Lebens zu erreichen, und dieser besteht in der Vergrößerung seines Grundstückes.

Seit die große französische Revolution ihn zum Herrn des Bodens gemacht und er die Frucht seiner Arbeit genießen darf, findet er diesen Genuß in der Vermehrung seines Besitzes. Ich habe längere Zeit auf dem Lande in den verschiedenen Departments zugebracht und unter den Bauern manchen Millionär kennen gelernt, der die Holzschuhe und die geflickte Blouse nur an Sonn- und Festtagen ablegte. Nicht der Leichtsinn ist der Grundfehler der Franzosen; ihr Grundfehler ist die Unwissenheit. Und diese herrscht nicht nur unter der Classe, die weder schreiben noch lesen kann, sondern in sämmtlichen Schichten der Bevölkerung. Man macht sich oft und mit Recht über die geographische Unkenntniß des Franzosen lustig; dieselbe bildet indessen nur einen Theil seiner wahrhaft encyclopädischen Unwissenheit, über die er zwar manchmal selbst spottet, von der er sich aber zu befreien weder Muth noch Lust hat, und zwar trotz aller bitteren Erfahrungen, die er soeben gemacht. Der Franzose ist sehr intelligent und von ungemein schneller Auffassungskraft, aber sich über das zu belehren, was im Auslande vorgeht, ist seine Sache nicht.

Wie gering ist die Zahl der Franzosen, die eine englische oder deutsche Zeitung lesen können, und wie wenig französische Zeitungen giebt es, die ihre Leser regelmäßig und gründlich über das Ausland unterrichten! Das Studium fremder Sprachen, das bei dem immer mehr zunehmenden Völkerverkehr eine Nothwendigkeit geworden, wird in Frankreich, trotz der dringenden Ermahnung aufgeklärter Patrioten, auf’s Erbärmlichste vernachlässigt. Freilich wird in den Lyceen Englisch und Deutsch gelehrt; das Resultat dieses Unterrichts ist jedoch äußerst gering, und der Schüler, der während seines mehrjährigen Schulbesuchs mit Mühe und Noth einige deutsche oder englische Phrasen gelernt, beeilt sich, dieselben zu vergessen, sobald er die Schule verläßt. Wirft man nun den Franzosen ihren unerklärlichen Widerwillen gegen die Erlernung fremder Sprachen vor, so behaupten sie, daß ihnen die Begabung dafür fehle, besonders wenn es sich um die deutsche Sprache handelt, die sie für eine „langue impossible“ halten. Diese Behauptung ist jedoch grundfalsch, und ich habe mehr als irgend ein Anderer die Erfahrung machen können, daß, wenn der Franzose keine fremde lebende Sprache kennt, dies blos seiner Unlust und nicht seinem Mangel an Begabung zuzuschreiben ist.

Die Unkenntniß fremder Sprachen übt besonders einen traurigen Einfluß auf die Presse aus. In Deutschland ist doch ein halbwegs gebildeter Schriftsteller mit der Literatur Frankreichs und selbst Englands vertraut und kennt, wenigstens in Uebersetzungen, das Schriftthum auch anderer Nationen. Die meisten französischen Schriftsteller kümmern sich jedoch um solche Dinge wenig oder gar nicht. Sie kennen von der deutschen Literatur blos Goethe, Schiller, Hoffmann und Heine und die ersten Beiden kaum mehr als den Namen nach. Einige große Journale ausgenommen, bietet die politische Tagespresse ihren Lesern über das Ausland fast nichts als telegraphische Depeschen. Einige magere Telegramme reichen aber gewiß nicht zur Belehrung über die politischen und socialen Zustände außerhalb Frankreichs hin. –

Ein anderes Nationalgebrechen der Franzosen ist das Haschen nach Staatsämtern. Ein Familienvater sucht seinen Einfluß, seine Verbindungen geltend zu machen, um seinem Sohne oder seinen Söhnen eine öffentliche Anstellung zu verschaffen. Er schreckt dabei vor keinem Hinderniß zurück; er überwindet jede Schwierigkeit und ruht nicht früher, bis er mit Hülfe von Freunden und Verwandten seinen Zweck erreicht. Die Regierung, die in ihrem Selbsterhaltungstriebe sich nicht mit einflußreichen Familien überwerfen mag, vertheilt die Aemter trotz des Ueberflusses an Beamten, welche sie dann als willige Werkzeuge benutzt. Frankreich hat tausende und aber tausende Staatsbeamten zu viel, die, bei der auf’s Aeußerste getriebenen Centralisation der Regierung, dieser mehr dienen als dem Lande und den bureaukratischen Schlendrian unterhalten. Gar zu oft gehorchen sie blindlings nach oben und herrschen willkürlich nach unten. Der bureaukratische Geist erstickt jede Selbstständigkeit, und da man Alles von der Regierung erwartet, macht man auch die Regierung für Alles verantwortlich, was überall geschieht, wo nicht die Regierung das Werkzeug des Volkswillens, sondern das Volk ein Werkzeug in den Händen der Regierung ist. Bei der ungeheuren Menge der Staatsdiener geräth die Staatsmaschine nicht selten in’s Stocken. Rollt doch ein Wagen schneller mit zwei, als mit zwölf Pferden!

Es fehlt freilich nicht an einsichtigen Patrioten, die mit Feuereifer gegen den Bureaukratismus ankämpfen; dieser Kampf wird aber um so länger dauern, als das Uebel im Charakter der Nation liegt und so viel Interessen dabei im Spiele sind.

Wie kommt es aber, daß die Franzosen ungeachtet ihres lebhaften Unabhängigkeitsgefühls sich so sehr nach Staatsanstellungen drängen, während in England die Stellenjägerei – „place hunting“, wie sich der Engländer ausdrückt – den Gegenstand der Verachtung bildet? Ich glaube die Ursache in der Liebe des Franzosen zu seinem Lande zu finden. Der Engländer schickt seine Söhne, nachdem er ihnen eine tüchtige Erziehung gegeben und sie mit den nöthigen Geldmitteln versehen, in die Colonien. Dort finden sie einen heitereren Himmel als in England und entbehren kaum etwas, was sie in ihrem engeren Vaterlande besessen. Ueberhaupt äußert sich der Auswanderungstrieb doch nur bei Denjenigen, die in der Fremde ihr Loos zu verbessern hoffen. Diese Hoffnung hegen jedoch nur sehr wenige Franzosen.

Frankreich ist, wie Schiller sagt, „das Paradies der Länder“. Der Franzose verläßt daher sein Vaterland nur gebrochenen Herzens und fühlt sich im Auslande sehr selten glücklich. Sein innigster Wunsch im Auslande ist, wieder nach seinem Vaterlande zurückkehren zu können. Uebt doch Frankreich selbst auf die Fremden einen solch unwiderstehlichen Zauber aus, daß es ihnen nach einem längeren Aufenthalte in diesem Lande schwer wird, es zu verlassen und sie von der Sehnsucht nach demselben bei der Rückkehr in ihre Heimath gequält werden. Ich habe mich unmittelbar nach dem deutsch-französischen Kriege auf’s Unwiderleglichste davon überzeugt. Kaum war nämlich die Commune überwunden, als eine große Menge Deutscher wieder nach Frankreich kam. Sie waren bei dem Ausbruche des Krieges ausgewiesen worden und hatten keine freundliche Aufnahme zu erwarten. Als ich dies meinen Landsleuten bemerkte, sagten sie einstimmig, daß man nicht gut anderswo leben könne, wenn man längere Zeit in Paris gelebt. Ich bin überzeugt, daß in Frankreich der Andrang zu öffentlichen Anstellungen viel geringer wäre, wenn die jungen Leute nicht davor zurückschreckten, im Auslande ihr Glück zu versuchen.

Ein nicht geringerer Nationalfehler des Franzosen ist die Routine. Er hält viel hartnäckiger am Althergebrachten, als man glaubt. Statt neue Bahnen zu betreten, beharrt er in den alten Gleisen, die er immer mehr aushöhlt, bis es ihm fast unmöglich wird, sich aus denselben heraus zu arbeiten. Die Routine herrscht in allen Zweigen der Verwaltung. Sie herrscht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_198.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)