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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Der Patriotismus spielt bei der Verehrung des Talents keine ausschließliche Rolle. Rossini und Meyerbeer erfreuten sich einer ebenso großen Popularität. Schon seit länger als einem Menschenalter trägt eine Straße in der Nähe der alten großen Oper den Namen des Ersteren, und eine der neu angelegten Straßen dicht an dem soeben eröffneten Opernhause trägt den Namen des Letztern. Freilich werden Beide, da sie einen großen Theil ihres Lebens in Frankreich zubrachten und hier eine Reihe ihrer Werke schufen, fast für Franzosen gehalten. Will man nun dies als Nationaleitelkeit auslegen, so muß man doch zugeben, daß eine solche Eitelkeit, welche die Größen des Auslandes sich anzueignen strebt, der kalten Gleichgültigkeit vorzuziehen ist, mit der manches Land seine eigenen Größen behandelt.

Ich habe eben von dem lebhaften Gefühle der Franzosen für sociale Gleichheit gesprochen. Dasselbe ist so tief im Herzen des französischen Volkes eingewurzelt, daß keine Regierung, selbst die unumschränkeste, es nicht ungestraft verletzen dürfte. Wenn der Franzose mit eben solcher Eifersucht an seiner politischen Freiheit hielte, so wären die Staatsstreiche, die Willkürherrschaften und in Folge derselben die blutigen Umwälzungen in Frankreich unmöglich.


Livingstone, einen Fluß passirend.
Nach einer Skizze von Livingstone.


Die Hinwegräumung der gesellschaftlichen Schranken hat wohlthätig in Frankreich gewirkt. Sie hat durch die mehr oder minder innige Berührung aller Volksclassen eine sociale Bildung erzeugt, die bei dem Mangel allgemeiner Schulbildung nicht hoch genug anzuschlagen ist. Die niedrigen Volksclassen in Frankreich unterscheiden sich nicht so sehr wie in anderen Ländern von den höheren in der Aussprache und in der Ausdrucksweise, und man begegnet oft Arbeitern, die kaum lesen und schreiben können, im Benehmen aber und in der Sprache eine große Gewandtheit zeigen. Die außerordentliche Geselligkeit und Gesprächigkeit der Franzosen erleichtert den Verkehr zwischen Hohen und Geringen und giebt den Letzteren nicht nur einen äußern Schliff, sondern verbreitet und erhält unter ihnen den ästhetischen Sinn. Daher läßt es sich auch erklären, daß Frankreich allen Völkern den Rang in jener Industrie abläuft, die sich fast bis zur Kunst erhebt. Man wird diese Erklärung richtig finden, wenn man bedenkt, daß der deutsche Arbeiter in Frankreich sich schnell den Kunstgeschmack aneignet, ihn sich aber bei seiner Rückkehr in’s Vaterland nicht lange erhält, ja, daß selbst der französische Arbeiter ihn nach und nach im Auslande verliert.

Der Geselligkeitstrieb des Franzosen, die Leichtigkeit seines Umgangs, so wie seine von Niemand bestrittene Liebenswürdigkeit sind Eigenschaften, die um so schätzbarer sind, als sie aus der Gutherzigkeit entspringen, ohne welche die Liebenswürdigkeit sich überhaupt nicht denken läßt. Der Franzose hilft gern, wo er leiden sieht, und es thut ihm weh, wenn er nicht helfen kann. Ich spreche hier nicht von den Reichen, welche die Armen unterstützen, sondern von den Armen, welche den Aermeren beistehen. Wer in Paris lebt, wo der Kampf um das Dasein weder Tag noch Nacht ruht, kann sich jeden Augenblick, auf öffentlicher Straße von der Leutseligkeit der Bevölkerung überzeugen. Leidenschaftlich von Natur und dem Triebe des Herzens eher folgend, als der kalten Ueberlegung, läßt der Pariser sich jedoch, wenn er gereizt wird, fast ohne allmählichen Uebergang vom heftigsten Zorne und in diesem zu Gewaltthätigkeiten hinreißen. Er läßt sich lange die Willkür der Regierung ruhig gefallen, bis er sie plötzlich über den Haufen wirft. Diesem Temperamente ist es zuzuschreiben, daß in Frankreich die gründlichen Reformen so selten, die heftigen Umwälzungen so häufig sind. Die Regierungen, sind freilich eine Hauptursache dieser Umwälzungen; das Volk aber trägt doch die Schuld, den Regierungen keinen besonnenen Widerstand zu leisten und ihnen die Willkür unmöglich zu machen. Ein politisch reifes Volk läßt sich seine Rechte und Freiheiten nicht von dem Willen eines Alles auf’s Spiel setzenden Ehrgeizigen entwinden; es weiß vielmehr durch seinen unerschütterlichen Willen jeden Eingriff in seine Gerechtsame zu gehöriger Zeit abzuwehren. Ein solches Volk läßt sich keinen Staatsstreich gefallen. Die Franzosen haben sich daher selbst anzuklagen, wenn sie in diesem Jahrhunderte schon zweimal an den Rand des Abgrundes geschleudert wurden. Der achtzehnte Brumaire hat zu Waterloo, der zweite December hat zu Sedan geführt. Die Beiden militärischen Niederlagen sind in dem Gelingen der beiden Staatsstreiche zu suchen, und die zweite militärische Niederlage war um so größer, je unverantwortlicher die Schlaffheit war, mit der die Franzosen den zweiten Staatsstreich über sich ergehen ließen. –

Gar manche an dem Franzosen gerügten Fehler entspringen aus seinen Vorzügen, und man würde jene weniger streng beurtheilen, wenn man diese etwas genauer kennte. „Comprendre, c'est pardonner, – erkennen heißt verzeihen“: Dieses Wort ist ebenso tief wie human. Wie die Überschätzung, entsteht auch die Unterschätzung aus unzulänglicher Prüfung, und wir wären viel nachsichtiger, wenn wir einsichtiger wären. Der Franzose ist nicht zuverlässig. Er verspricht leicht, und es wird ihm dann

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_200.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)