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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


über unser äußeres Verhalten den Freunden gegenüber, die unsere politischen Feinde sind, weiter aber darf unsere Abhängigkeit von solchen Rücksichten nicht gehen, wenn wir uns noch als freie Menschen fühlen und bethätigen wollen.“

Juliette wiegte nachdenklich den Kopf. „Ihre Cousine muß ein sehr hübsches und liebenswürdiges Mädchen sein,“ sagte sie.

„Weshalb?“

„Es fiel mir nur so ein.“

„Wenn es nach meiner Mutter ginge, so würde sie meine Frau.“

Juliette richtete sich wie erschreckt auf. „Ihre Frau?“

Er lachte. „Wenn es nach meiner Mutter ginge –!“

„Und Sie?“ Sie begleitete diese kurze und schnell hingeworfene Frage mit einem Blicke, der bestimmt schien, ihn durch und durch zu sehen.

„O, ich …“ antwortete er und zuckte die Achseln.

„Nun – nun – ? Beichten Sie nur!“

„Ein Mädchen, das mich liebte, hätte von dieser Seite nichts zu fürchten.“

„Das ist eine gewundene Erklärung,“ meinte sie. „Ein Mädchen, das Sie nicht liebt, hat natürlich ebenso wenig zu fürchten. Ich wollte wissen, wie weit Sie selbst betheiligt sind … ohne jedes weitere Interesse, als das aus einer gewissen freundschaftlichen Theilnahme für einen Mann hervorgeht, der sich’s nun einmal in den Kopf gesetzt zu haben scheint, uns vergessen zu machen, daß er unser Feind ist. Mein Bruder hat nicht ganz Unrecht: man verletzt nicht eine allgemeine Pflicht, wenn man zu Gunsten Einzelner sie auf das nothwendigste Maß einschränkt.“

„Ich gehe viel weiter,“ entgegnete er lebhaft, „und behaupte, eine solche allgemeine Pflicht der Abneigung und Feindseligkeit lasse sich nur unter der stillschweigenden Bedingung rechtfertigen, daß jede Ausnahme zu Gunsten des rein menschlichen Gefühls gestattet sei. Ich gestehe ein solches nothwendigstes Maß, wie Sie’s nennen, gar nicht zu, sondern stelle die Freiheit, sich als Mensch dem Menschen gegenüber zu fühlen, obenan; ich betrachte die nationale Feindschaft als ein Unglück, nicht als eine sittliche Pflicht – auch selbst im Kriege – und folge, wo mein Herz mitspricht, keinem Machtgebote, als dem der Liebe.“

Juliette hatte mit gesenkten Augen zugehört; jetzt bewegten sich mit raschem Zucken die langen Wimpern ein wenig auf und ab. Es war da ein Wort gefallen, das einen so eigenen Klang hatte, gar nicht wie andere Worte. Sie hätte ihm sagen können, daß sie gar keine Antwort auf ihre Frage erhalten habe, aber es mußte ihr nun wohl gefährlich erscheinen, weiter in ihn zu dringen, und noch gefährlicher, ihm auf dem Seitenwege zu folgen, den er eingeschlagen; sie schwieg und benutzte die erste beste Gelegenheit, sich zurückzuziehen.

Aber man fand sich doch immer wieder. Eines Tages trat Juliette mit dem Wunsche hervor, auch Deutsch zu lernen, wie ihr Bruder. „Ich denke mir,“ sagte sie, „Victor wird für seine Sprachstudien aus dem anscheinend sehr regen Verkehr mit Ihrer Cousine den größten Vortheil ziehen; warum soll ich mir den Umgang des Cousins in unserem Hause nicht in gleicher Weise nutzbar machen? Ich habe immer gefühlt, daß man Ihrer schönen Literatur nicht gerecht werden kann, wenn man sie nur aus französischen Uebersetzungen kennt. Sie haben ja viel überflüssige Zeit: wollen Sie mir Stunden geben?“

Er erklärte sich natürlich in den wärmsten Ausdrücken dazu bereit, verschwieg aber nicht, daß die Sprache sehr schwer sei.

„O!“ rief sie, „Sie müssen’s nur nicht damit anfangen, wie ein Pedant. Ich mag nicht aus dem Buch Vocabeln lernen und decliniren und conjugiren; Sie müssen mir’s beibringen, wie einem Kinde, das den Unterricht gar nicht merkt. Wenn ich mich langweile, ist’s bald aus mit meinen guten Vorsätzen. Versuchen Sie’s einmal, wie weit Sie’s mit mir bringen, und fangen wir gleich an!“ Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und stützte den Kopf in die Hand, so daß sich die Locken zwischen den Fingern hindurchringelten. „Nun –? Was heißt in Ihrer Sprache: ‚fangen wir gleich an‘?“

Seine Lehrmethode gewann immer mehr ihre Zufriedenheit. Aus der Stunde wurden oft genug Stunden. Und nach einiger Zeit durfte man sich auch nicht mehr mit dem Sprechen begnügen; es war nöthig, die gelernten Worte und Sätze zu schreiben. Arnold mußte also um den Tisch herumrücken und sich an ihre Seite setzen, und ihr, wenn sie die wunderlichsten Buchstaben zusammengestellt hatte, die Feder abnehmen und Verbesserungen eintragen, oder am liebsten, da sie doch wie ein Kind lernen wollte, die reizende kleine Hand führen. Oft kamen sie auch in Streit, wenn er ihr ein Wort vorsprach, das ihre Zunge durchaus nicht bewältigen konnte, er nun immer noch zu meistern hatte und sie behauptete, ganz richtig nachzusprechen, wie er vorspreche.

„Ach, Sie sind doch ein Pedant,“ rief sie dann ärgerlich, „ich hätte mich gar nicht mit Ihnen einlassen sollen.“

Madame Blanchard aber, die, gewöhnlich mit einer Näharbeit am Fenster saß, mahnte freundlich: „Sei hübsch artig, Juliette! Du machst es Herrn Rose schwer genug.“ Das wollte er natürlich nie gelten lassen, und wenn er dann seine Schülerin recht aus dem Grunde lobte, durfte er stets auf einen dankbaren Blick oder auf einen flüchtigen Händedruck rechnen. – –

Die Einschließung von Paris dauerte so lange, daß man sich an den Gedanken gewöhnte, so noch unbestimmte Zeit fortleben zu können. Die beiden jungen Leute wenigstens schienen gar nicht ungeduldig auf eine Entscheidung zu warten, und auch Herr Blanchard hatte sich so weit beruhigt, daß nur noch ganz ungewöhnliche Nachrichten ihn in Aufregung versetzten und zu lebhafteren Auseinandersetzungen über die politische Lage stachelten. Er hatte sogar in einer guten Stunde schon zugegeben, daß der Krieg von Frankreich hervorgerufen sei und daß es verständiger gewesen wäre, den Preußen ihr Sadowa zu gönnen. Nun aber kam endlich doch der Tag, an dem Paris fiel, und wie mit einem Gewitter schlug plötzlich die Stimmung wieder um.

„Dem Hunger ist Paris erlegen,“ rief er wüthend, „dem Hunger! Nicht mit Waffengewalt ist es genommen. O, es ist eine Schmach, so zu siegen.“ Er ballte die Fäuste, und große Thränen stürzten über sein hageres Gesicht. Arnold, der ihn zu besänftigen versuchte, wurde mit beleidigenden Worten zurückgewiesen. „Frohlocken Sie nicht zu früh, mein Herr!“ donnerte er ihn an; „dieser Sieg wird Ihr Verderben sein. Was ist die Welt ohne Paris? O, man tritt das Große nicht brutal unter seine Füße, ohne sich der allgemeinen Verachtung auszusetzen. Hätten die Deutschen Paris geschont, es wäre vielleicht noch ein Friede möglich gewesen; jetzt wird Feindschaft sein zwischen den beiden Nationen bis an den jüngsten Tag, was auch die Diplomaten zu Papier bringen. Kein Wort mehr – ich bitte Sie, kein Wort mehr! Wir hatten Waffenstillstand geschlossen bis zur Entscheidung; nun ist Paris gefallen – zwischen uns giebt’s fortan keine Gemeinschaft.“

Madame Blanchard und Juliette legten Trauer an; sie gingen Arnold scheu aus dem Wege oder beschränkten sich auf den nothdürftigsten Verkehr. Schritt vor Schritt war man langsam einander näher gekommen, und wie mit einem einzigen Sprunge maß man die weiteste Entfernung wieder zurück. Und es war nun gar keine Hoffnung mehr, nochmals vom Anfang anzufangen und den verlorenen Boden wiederzugewinnen; der Fall von Paris hatte eine Kluft aufgerissen, die auszufüllen auch der Muthigste verzagen mußte. Arnold hatte sich schon dem Ziel so nahe geglaubt und sah es jetzt in unabsehbare Ferne gerückt. Er wagte in der ersten Bestürzung nicht einmal, die Augen darauf zu richten. Alles, alles schien verloren.

Wie ein Träumender ging er einige Tage noch in dem ihm so lieb gewordenen Hause aus und ein, ohne freilich die Wohnung seines Wirths zu betreten. Es kam ihm wie etwas ganz Unerträgliches vor, den Umgang des Mädchens missen zu sollen, das sich seines ganzen Herzens bemächtigt hatte, und dem auch er – daran zweifelte er nicht – etwas geworden war. Aber noch unerträglicher wurde bald die Vorstellung, mit Juliette unter demselben Dache zu wohnen und sie nicht sehen, nicht sprechen, nicht lachen hören zu können. Er machte sich bittere Vorwürfe, den rechten Moment zu einer offenen Erklärung versäumt zu haben, sehr ungerechte Vorwürfe, denn sein Gefühl hatte ihn ganz richtig geleitet. Dann meinte er wieder trotzig, vor Blanchard hintreten und sich ihm mit Mannesmuth eröffnen zu müssen, und gleich darauf nannte er sich selbst einen Tollhäusler. „Es ist aus, ganz aus,“ rief er sich zu. „Ich bin wie der Matrose, der im Sturm über Bord fällt. Er weiß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_262.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)