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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


recht gut, daß kein Boot ausgesetzt werden kann, um ihn zu retten, und daß seine Schwimmkünste bald erlahmen müssen, und doch rührt er noch die Arme, sich über Wasser zu erhalten. Fruchtloses Bemühen – hinab!“

Er forderte, da ja seine Dienste jetzt schon leicht entbehrt werden konnten, beim Commando der Lazarethabtheilung seine Entlassung und gab Kruttke den Befehl, seine wenigen Sachen zusammenzupacken. Der brave Bursche hatten längst gemerkt, was ihn an das Haus fesselte. „Ich wußt’s wohl,“ sagte er traurig, „das ist von wegen Paris. Na – ich denk’ mir so in meinen dummen Gedanken: halb haben wir’s doch nur, und das ist halb zu wenig oder halb zu viel. Man sieht’s an dem Herrn Blanchard, da ist keine Dankbarkeit nicht, daß man die Stadt schont; hätten wir sie zusammengeschossen, es wär’ gerad’ so. Und – nehmen Sie sich’s nur nicht zu Herzen, Herr Rose! – wären wir gar nicht einmarschirt, es wär’ gerad’ auch so. Deutsche und Franzosen tanzen nun einmal nicht nach derselben Musik. Und darum – na! ich will von dem schönen Fräulein nichts sagen, aber das Herz könnt’ einem weh thun, wenn man so viel Unverstand unter den Menschen sieht, wo es doch ein Blinder mit der Hand greifen kann, daß es ihnen eigentlich ganz anders zu Muth ist. Ja, ‚da hört sich die Weltgeschichte auf,‘ hat immer unser Herr Lehrer gesagt, wenn einer von uns gar zu dumm war, daß er ihm gar nicht mehr meint' den Kopf zurecht setzen zu können – und hier ist’s beinah’ ebenso. Na, es giebt auch noch in Deutschland schöne Fräulein, und so arge Mucken, wie die hier, haben sie denn doch nicht, und so ein hübscher, guter Herr … I, das find’t sich Alles wieder zurecht. Ich wünscht’ nur, ich könnt’ gleich mit Ihnen, daß meine alte Mutter nicht so lange zu warten braucht.“

Das war die längste Rede, die Kruttke je fertig gebracht hatte. Sie mußte sich in den letzten schweigsamen Tagen angesammelt haben. Rose, dem das Wasser in die Augen stieg, klopfte dem treuen Menschen die Schulter und drückte ihm die Hand, sagte aber kein Wort. Als er reisefertig war, stieg er langsam die Treppe hinauf, und auf jeder folgenden Stufe fühlte er sein Herz schwerer, daß es ihm zuletzt wie ein Stein in der Brust lag, als er an die Thür klopfte. Als eine bekannte helle Stimme „Herein!“ rief, schalt er sich, daß er nicht fortgelaufen sei, ohne seine schmerzliche Wunde noch einmal aufzureißen.

Er fand Juliette allein im Salon, und das hob seine Stimmung wieder. Ihr Gesicht war verweint, und die schlanke Gestalt, als sie sich nun erhob, schien wie haltlos und gebrochen. Die bleichen Wangen rötheten sich schnell, und in den matten Augen glühte etwas von dem Feuer auf, das damals so lebhaft darin loderte. Nur eine Secunde oder weniger – dann erstarrten diese sonst so beweglichen Formen; die Wangen entfärbten sich wieder, und der stolz abweisende Blick erinnerte ihn an jenes erste Zusammentreffen am Wagen, als er sie aus der Pension abholte. „Mein Herr –“ sagte sie hastig, als er, von seinem Gefühle überwältigt, nicht sofort zu seiner Einführung Worte fand.

„Ich komme, Abschied zu nehmen, Fräulein Juliette –“ fiel er nur ein, indem er die flache Hand wie begütigend vorstreckte.

Sie schien zu erschrecken und eine plötzliche innere Unruhe gewaltsam niederzukämpfen. „Abschied …?“ fragte sie unsicher, und fügte leise hinzu: „schon?“

„Es ist am besten so,“ antwortete er, ein paar Schritte vortretend, „ich hab’s überlegt. Ich habe so gute, glückliche Tage in diesem Hause verlebt, und ich möchte doch gern ein warmes Andenken daran in die Heimath mitnehmen. Was jetzt noch folgen kann … Sie wissen ja, daß sich nach diesen letzten Ereignissen, über die wir keine Macht haben, das frühere Verhältniß nicht wieder herstellt – wenigstens jetzt in Kürze nicht.“

„Nie mehr, nie mehr,“ rief sie sehr erregt, „glauben Sie mir: nie mehr.“ Dabei perlten große Thränen aus den ängstlich ausweichenden Augen hervor. Sie preßte fest die Lippen zusammen, als ob sie ihr Gefühl zwingen wollte, sich nicht zu verrathen, aber es gelang ihr nicht. Unwillig über ihre eigene Schwäche, wandte sie sich dem Fenster zu. Das krampfhafte Zucken des Kopfes und der Schultern sagte ihm, daß der Thränenstrom sich nicht hemmen ließ und daß sie mit größter Anstrengung ein lautes Schluchzen niederzukämpfen suchte. Er wagte nicht, ein Wort der Beruhigung zu sprechen.

Nach einer Weile nahm sie wieder ihre frühere Stellung ein. „Mein Vater liegt krank zu Bett,“ sagte sie, und die glockenhelle Stimme hatte jetzt einen rauhen Klang; „er wird bedauern –“

„Sie glauben, daß er mich abreisen lassen wird, ohne mir noch einmal die Hand zu reichen?“ fragte Arnold gekränkt.

„Sein nervöser Kopfschmerz …“ entschuldigte sie; „er ist so fieberhaft aufgeregt – selbst wir müssen jedes Wort auf die Goldwage legen, und wenn er nun durch Sie von Neuem erinnert wird … Aber ich will meine Mutter benachrichtigen, die an seinem Bette sitzt.“

Sie wollte rasch an ihm vorüber, er aber ergriff ihre Hand und hielt sie sanft zurück. Sie ließ es geschehen. „Ich betrachte es als eine besondere Gunst meines sonst so unholden Geschicks,“ sprach er mit bebender Stimme, „daß ich Sie allein im Zimmer traf, Juliette, als ich mit schwerem Herzen Abschied zu nehmen kam. Ihretwegen, Juliette, konnte ich nicht fort ohne Abschied –“

„O mein Herr –“ unterbrach sie, und ihre Hand wurde eiskalt; „warum sagen Sie mir das?“

„Weil ich hoffe, daß Ihre Empfindung der meinigen ein wenig entgegenkommt,“ antwortete er weich, „weil ich zu wissen glaube, daß ich Ihnen aus einem Feinde ein Freund geworden bin, weil es vielleicht auch Ihnen ein Herzensbedürfniß ist, sich einmal noch frei zu machen von dem bedrückenden Einflusse äußerer Verhältnisse und dem Scheidenden ein freundliches Wort auf den Weg zu geben. Ich werde lange – lange noch an Sie denken, Juliette – ich werde Sie nie vergessen können. Und ich trenne mich nicht von Ihnen ohne die zuversichtliche Hoffnung, daß wir einander im Leben noch einmal begegnen werden, wenn die Wunden, die dieser Krieg auch uns geschlagen, nicht mehr schmerzen. Sagen Sie mir, daß Sie mir bis dahin ein gutes, treues Andenken bewahren wollen – sagen Sie mir das, Juliette!“

Er hatte die letzten Worte rasch und fast zitternd hervorgestoßen, nun aber versagte ihm die Stimme: er hätte keinen Laut mehr herausbringen können. Sie stand neben ihm und hatte den Kopf gesenkt; die Locken hatten sich hinter dem Ohr gelöst und waren in langen Ringeln, das Gesicht deckend, vorgefallen. Es war jetzt so still, daß er ihr rasches Athmen hörte. „Was hindert Dich, sie in Deinen Arm zu schließen,“ flüsterte eine zitternde Stimme in seiner Brust, „ihr zu bekennen – –?“ Da fühlte er einen Druck der kleinen, weichen Hand. Der Kopf schüttelte die Locken über die Schultern zurück; sie sah ihm in die feuchten Augen mit einem schnellen, wehmüthig zärtlichen Blick – dann riß sie sich los und eilte fort. „Wir sehen uns nicht wieder,“ sagte sie, schon abgewandt; gleich darauf schloß sich die Thür hinter ihr.

Arnold stand wie betäubt. Nach einigen Minuten erschien Madame Blanchard. Sie entschuldigte ihren Mann und wünschte ihm sehr förmlich eine gute Reise. Er sagte ihr – er wußte selbst nicht was. Sie reichte ihm die Hand und er drückte einen Kuß darauf. „Grüßen Sie Victor!“ bat sie.

Einige Stunden später saß er im Eisenbahnwaggon, düster in eine Ecke gelehnt. Er hätte sich’s nimmer gedacht, daß er den Tag der Heimkehr einmal scheuen würde.


Im Hause der Commerzienräthin war großer Jubel, als Arnold Rose – „der Sohn“, „der junge Herr“, „der Chef“, wie er bei den verschiedenen Betheiligten hieß – unerwartet zurückkehrte. Seine Mutter, eine behäbige Dame, der die Gutmüthigkeit auf’s Gesicht geschrieben war, machte ihm, nachdem die Freudenthränen getrocknet waren, die zärtlichsten Vorwürfe, daß er sich nicht „ordnungsmäßig“ angemeldet habe; es sei nun seine Schuld, wenn er das Haus nicht von der Thürschwelle bis unter’s Dach hinauf geschmückt, das Comptoirpersonal und die Hausgenossen nicht in Feiertagskleidern finde. Man habe schon so viel darauf gedacht, wie man ihn empfangen wolle, und nun sei alles Kopfzerbrechen unnütz gewesen. Er konnte ganz aufrichtig antworten, es freue ihn recht, seinen Zweck erreicht zu haben; er liebe es gar nicht, daß mit seiner Person viel Aufhebens

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_263.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)