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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Kretindrüse, der Blinddarm etc. im Geheimen vielleicht dennoch gut seien. Ein bekannter Professor hat sie jüngst für überzählige Lappen beim Zuschnitt der Naturwesen erklärt, Partieen, wo mehr Zeug vorhanden war, als der betreffende Embryo braucht. Schon oben deuteten wir an, daß alle diese Unzweckmäßigkeiten sich ohne Schwierigkeiten verstehen lassen, wenn man sie als Rückbildungen ererbter und für die Vorfahren unentbehrlicher Organe auffaßt, weshalb sie, wie z. B. das Haarkleid und das Schwänzchen des Menschen, in seiner jüngsten Daseinsperiode viel auffälliger hervortreten, als später.

„Erkenne dich selbst!“ stand im Delphischen Tempel als Mahnspruch angeschrieben, und der griechische Philosoph Protagoras erinnerte daran, daß das eigentliche Studium des Menschen der Mensch selbst sein müsse. Diese so nahe liegenden Forderungen verhallten lange in den Lüften, und nachdem es lange Zeit für sündlich gegolten, den todten Menschenkörper zu zerschneiden, scheint man es später für überflüssig gehalten zu haben, ihn und seine Entwickelung genauer zu beobachten. Nur so konnte die wahnwitzige Hypothese zur Herrschaft gelangen, daß es gar keine wahre Entwickelung und Neubildung in der Natur gäbe, und daß mit dem Leibe der Eva bereits alle ihre Nachkommen in kleinster mikroskopischer Gestalt vorgebildet und in einander geschachtelt worden seien, für die Schöpfungsgläubigen freilich die einzig consequente und seligmachende Auffassungsweise. Man war so glücklich im Besitze dieses Auskunftsmittels, welches alle Wesen, Pflanzen und Thiere zu eigenhändigen Werken des Schöpfers erhob, daß man gar nicht davon Notiz nahm, als Caspar Friedrich Wolff in Halle vor mehr als hundert Jahren darauf hinwies, daß jedes Naturwesen eine Neubildung sei, deren Theile, wie Jeder mit seinen Augen sehen könne, nacheinander entstünden und zum Theil vielfachen Umwandelungen unterlägen, ehe sie ihre endgültige Gestalt erlangen, daß also von einer Vorbildung (Präformation) keine Rede sein könne. Allein seine Worte verhallten bei den Zeitgenossen vollständig, und erst als Carl Ernst Baer in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts seine epochemachenden Untersuchungen zur Entwickelungsgeschichte der Thiere vollendet hatte, wurde die Bedeutung der Entwickelungsgeschichte für die vergleichende Anatomie und die Philosophie der Zoologie anerkannt.

Diese von Lamarck begründete, durch Geoffroy de St. Hilaire am meisten geförderte Wissenschaft konnte indessen doch erst einen eigentlichen Halt gewinnen und den rechten Nutzen von dem Studium der Entwickelungsgeschichte ziehen, nachdem Darwin seine grundlegenden Forschungsresultate veröffentlicht und die Abstammungslehre wissenschaftlich begründet hatte. Die Darwin’sche Lehre setzt sich aus einer Reihe von Hypothesen und Schlüssen zusammen, die den menschlichen Geist durch ihre Einfachheit und Folgerichtigkeit überzeugen, aber sich doch nicht geradezu durch Thatsachen beweisen lassen, da die Umwandlungen der organischen Wesen, deren Ursachen sie so klar erörtert, ungeheure Zeiträume zu ihrer Verwirklichung und damit auch zu ihrer directen Beobachtung voraussetzen. Die Vorwesenkunde trägt zwar in allen ihren Errungenschaften wesentlich dazu bei, jene mechanische Weltanschauung, die sich auf Darwin’schen Lehren aufbaut, zu stützen, allein diese Wissenschaft ist selber sehr lückenhaft und hypothesenreich. Da traten nun Huxley und Häckel in’s Mittel und verwiesen mit Nachdruck auf die Entwickelungsgeschichte und die Beweiskraft der vor unsern Augen am Individuum vor sich gehenden Veränderungen.

Der größte Theil von Häckel’s rastloser Thätigkeit ist seither der Begründung des entwickelungsgeschichtlichen Grundgesetzes gewidmet gewesen, welches lautet: Die Entwicklungsgeschichte jedes Lebewesens ist eine abgekürzte Wiederholung seiner Stammesgeschichte, die im Unwesentlichen ungenau sein kann, in den allgemeinen Umrissen aber, auf die es ankommt, getreu ist. Oder mit andern Worten: Jedes Wesen muß den Hauptstadien nach bei seiner Entwicklung denselben Weg einschlagen, den seine Vorfahren allmählich zurückgelegt haben, wobei es, Schlängelpfade vermeidend, wohl mitunter auch querfeldein gehen, im Wesentlichen aber die gebahnten und vorgeschrittenen Wege nicht verlassen kann. Im Grunde ist dieses Gesetz so wunderbar einfach, so natürlich und „gar nicht anders denkbar“, daß man sich schämen sollte, so spät darauf gekommen zu sein. Zahllose Naturforscher haben verfolgt, wie der Froschkeim in jedem Frühjahr aus niederer Stufe sich zum Fische entwickelte, ehe er als Frosch an’s Land sprang, aber die Wenigsten haben eine Ahnung davon gehabt, daß er damit nur den Sprung wiederholte, den einer seiner Urväter zum ersten Male gethan. Millionen beobachteten an ihren eigenen Nachkommen das herrliche Mysterium von der Entwicklung der Kindesseele, ohne zu fühlen, daß sich hier nur schnell wiederholt, was im Urmenschen unvergleichlich langsamer vor sich gegangen sein muß. Hier und nirgends sonst ist die Lösung des Delphischen Wahrspruches, die alle Fragen der Philosophie in sich begreift, zu finden und höhere Weisheit zu schöpfen, als der Talmud und die ganze Bibliothek der Kirchenväter mit all ihren Geheimnissen und scholastischen Spitzfindigkeiten zusammengenommen enthalten.

Darum muß es als eine folgenschwere Geistesthat bezeichnet werden, daß sich Häckel, alle Bedenken, die das Thema mit sich bringt, niederkämpfend, entschlossen hat, seinen anderen entwicklungsgeschichtlichen Werken eine Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen,[1] die in allgemein verständlicher Sprache geschrieben ist, folgen zu lassen. Denn hier stehen wir nicht mehr vor einem luftigen Gebäude von Hypothesen, sondern vor einer Reihe thatsächlicher Erscheinungen, die selten eine doppelte Deutung zulassen. Da der Mensch, wenn nicht als Inbegriff der gesammten thierischen Schöpfung, so doch als die Krone des Hauptstammes derselben betrachtet werden muß, so erhalten wir in seiner speciellen Entwicklungsgeschichte eine abgekürzte Duodezausgabe der Geschichte des ganzen Stammes. Wie die alten Hofmagier den Fürsten die Reihe ihrer Nachfolger in einem Spiegel zu zeigen pflegten, so geht in den verschiedenen Embryonalzuständen des Fürsten der Schöpfung seine Ahnengalerie in mehr oder weniger getreuen Portraits vor unserem Auge vorüber. Nicht aller Portraits, denn einzelne, besonders die der frühesten Zeiten, sind verdunkelt oder verloren gegangen. Aber die meisten dieser Lücken lassen sich ergänzen, denn jene vermißten Portraits finden sich noch in den Jugendzuständen von Thieren, die einzelnen frühen Vorfahren des Menschen nahe stehen. Eine kurze Heerschau über die von Häckel charakterisirten directen Vorfahren des Menschen möge hier, mit Erwähnung der Erbschaften, die wir ihnen verdanken, eingeschaltet werden.

Der Anfang ist jener Urschleim, von dem schon die alten Philosophen phantasirten, den aber erst die neuere Forschung wirklich aus dem Grunde der Gewässer emporgebracht, eine gestaltlose Gallerte, die umher kriecht, indem sie Schleimfäden ausstreckt, sich nährt und durch Theilung fortpflanzt. Wenn sich in dieser beweglichen Materie ein fester Mittelpunkt, ein Kern abgesondert hat, so haben wir in dieser zweiten Stufe bereits die Urzelle, das individuelle Grundelement, aus dem sich noch heute durch Theilung die gesammte Pflanzen- und Thierwelt aufbaut. Nachdem sie sich zu einem Klümpchen durch wiederholte Theilung vermehrt (dritte Stufe: Maulbeerthier), dann zu einer Kugelflächenschicht (Blasenthier) angeordnet, beginnt die Vertheilung der verschiedenen Lebensfunctionen, die sonst jede Zelle insgesammt verrichtete, auf einzelne derselben, nach dem für die Weiterentwicklung im Zellenstaate, wie in der menschlichen Gesellschaft gleichwichtigen Princip der Arbeitstheilung. Aus der einen Zellenschicht sind dann zwei geworden, von denen die eine als Oberhaut die Vermittlung mit der Außenwelt übernimmt, während der andern die ernährenden Thätigkeiten zufallen, nachdem sich diese Doppelschicht zu einem eiförmigen Sack ausgestülpt hat. Ein schwimmender Magen wäre dieses Thier zu nennen, welches von allen wünschenswerthen Organen zunächst das Darmrohr, als das für sein Gedeihen wichtigste, ausgebildet hat.

Obwohl dieses von Häckel Gasträa benannte Unthier, mit dem die Herrschaft des Magens in der Welt begann, nur noch in der Entwickelungsgeschichte einiger dem Menschenstamme nahestehenden Würmer und Urwirbelthiere vorkommt,[2] in derjenigen der Menschen aber nur andeutungsweise noch erkannt werden kann, verdanken wir ihm die Sonderung in Oberhaut und Magen, die sich noch jetzt in dem vorläufigen Auftreten zweier Keimblätter bei den Embryonen aller höheren Thiere zu erkennen

Anmerkungen

  1. Mit 12 Tafeln, 210 Holzschnitten und 36 genetischen Tabellen. Zweite Auflage. Leipzig, Wilhelm Engelmann 1875.
  2. Es ist, seit dieser Aufsatz geschrieben wurde, von Dr. Rauber in Leipzig auch bei höheren Wirbelthieren entdeckt worden.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_267.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)