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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Vormittagsstunden des nächsten Tages schlichen ihm so langsam hin, daß er wiederholt seine Uhr beschuldigte, still zu stehen. So knapp wie möglich bemaß er die Zeit, die zur Abstattung von Visiten für unschicklich gilt. „Ich weiß nicht, lieber Onkel,“ sagte er, als er endlich den Gang glaubte wagen zu dürfen, „wie sich’s heute fügt, ob ich erst allein einen Besuch mache, um mein Hiersein zu melden, oder ob ich Dich gleich vorstelle. Man muß es von den Umständen abhängen lassen. Aber komm’ doch auf jeden Fall mit!“

Helmbach fügte sich.

Die Sonne schien wohl freundlich auf das gelbrothe Laub der Bäume und zwischen den Stämmen durch auf den Weg. Als sie in die Nähe der Villa kamen, stutzte Arnold und machte Halt. „Siehst Du die Dame dort im Garten hinter der Laube?“ fragte er hastig und mit verhaltener Stimme.

Helmbach nickte. „Sie hat sich in einen kurzen Mantel fest eingehüllt und trägt ein weißes Kopftuch.“

„Ganz richtig! Das ist Juliette.“

„So –? Juliette.“

Es folgte eine Pause im Gespräche. Beide Männer schauten mit gespannter Aufmerksamkeit in den Garten hinein. Die junge Dame hatte das Gesicht ihnen abgekehrt und schritt langsam den Gang weiter. „Onkel!“ nahm Arnold wieder das Wort, „Du wirst einsehen, daß ich diese Minute nicht verpassen darf – ich kann Juliette sprechen, bevor ich ihre Eltern sehe und von ihnen vielleicht unfreundlich begrüßt werde – ich muß sie sprechen.“

„Ja, so wollen wir doch –“

„Ich muß sie allein sprechen, Onkel! Thue mir die Liebe und gieb mich frei.“

„Aber, lieber Junge …“

„Gehe hier in der Allee auf und ab, aber nicht mit zu kurzen Wendungen – oder besser noch: geh’ langsam nach unserm Hôtel zurück!“

„Der alte Herr faßte seinen Arm. „Du wirst mich doch nicht – ?“

„Der Weg ist ja gar nicht zu fehlen. Und siehst Du – nun muß sie sich sogleich umwenden. Bitte, sei gut und laß mich los!“

Er entzog ihm mit einem schnellen Rucke seinen Arm und eilte über die Landstraße fort, der Gitterthür zu. Der Onkel stand ganz verblüfft da, zog den Hut tiefer über die Stirn, als ob er sein Gesicht besser verstecken wollte, murmelte irgend einen gutmüthigen Fluch und wandte seine Schritte rückwärts. Als er nach einer kurzen Strecke noch einmal sich umsah, stand der verwünschte Ausreißer schon vor der Dame und hielt den Hut in der Hand. „Er wird sich obendrein noch erkälten,“ schalt er in sich hinein; „wenn seine Mutter wüßte, daß ich so mein Amt verwalte!“ Einige Leute kamen ihm entgegen; er wich scheu bis zu den Baumstämmen hin aus. –

„Bin ich noch nicht vergessen?“ fragte Arnold, als er sich der vermummten Gestalt näherte.

Juliette hatte während des Gehens vor sich hin zur Erde gesehen; nun schreckte sie, von dieser Stimme berührt, auf, hemmte den Schritt und ließ zugleich die Arme, die gekreuzt den Mantel über der Brust schlossen, niedersinken. Der Mund öffnete sich ein wenig, ohne jedoch einen Laut hervorzubringen, und die Augen richteten sich auf den Fragenden mit jenem Ausdrucke ängstlicher und angestrengter Aufmerksamkeit, mit dem sie beim Erwachen eine ganz unerwartete Erscheinung zu mustern pflegen: träume ich – habe ich ein Wirkliches vor mir? Blitzschnell schien sie dann alle Möglichkeiten durchzudenken, die ihn hierher zurückgeführt haben könnten, und ihr bewegliches Gesicht ließ den raschen Wechsel der verschiedenartigsten Empfindungen erkennen. Zuletzt behauptete sich auf demselben siegreich ein freundliches Lächeln. Sie reichte dem Gaste die Hand und entzog sie ihm nicht sofort, nachdem er einen feurigen Kuß darauf gedrückt hatte. „Es ist doch wunderbar …“ sagte sie leise; „ich dachte eben an Sie.“

„Sie dachten an mich?“ entgegnete Arnold, und sein Blut, das bis dahin vor den krampfhaft geschlossenen Herzkammern still zu stehen schien, kam wieder in warmen Fluß. „O, dann kann ich nicht ganz unwillkommen sein.“

„Wenn das richtiger ist – ich träumte von Ihnen,“ modificirte sie ihr beglückendes Geständniß. „Man kann nicht für seine Träume.“

„Ich bin auch damit zufrieden,“ antwortete er. Die Unterhaltung stockte. Arnold überlegte, ob er sogleich eine offene Erklärung wagen solle, die sie über seine Absichten unterrichtete, und wie er sie einzuleiten habe, um nicht durch zu rasches und unvorsichtiges Vorgehen sich zu schädigen. Ehe er aber mit diesen Erwägungen in’s Reine gekommen war, hatte Juliette schon ihre ganze Fassung wiedergewonnen. Ihre Frage: „Wie ist es Ihnen bisher ergangen?“ deutete sehr bestimmt darauf hin, daß sie das Gespräch auf den conventionellen Gesellschaftston zu leiten entschlossen war.

Er fand nicht sogleich eine Antwort darauf, und als er sie nun wieder ansah, bemerkte er erst auf ihrem bleichen Gesichte die Spuren körperlicher oder seelischer Leiden, die sie gepeinigt haben mußten. „Promeniren wir noch ein wenig im Garten!“ fuhr sie fort. „Die Sonne scheint einmal nach Wochen wieder freundlich, und unser Arzt hat mir Bewegung in frischer Luft verordnet. – Aber Sie wollten vielleicht meinen Eltern –“

„Auch das!“ erwiderte er, ihr zur Seite tretend; „aber ich komme dort nicht so leicht zu spät. Man erwartet mich nicht und sieht mich wohl gar ungern. Glücklicher konnte ich es gar nicht treffen, als Ihnen, mein theures Fräulein, hier vor dem Hause zu begegnen, aus dem ich einst nur von Ihnen wie ein nicht unlieber Gast entlassen bin. Ach, jener traurige Abschied! Er haftete so fest in meiner Erinnerung – er verdüsterte alle meine Tage bis zu diesem, der mir ein Wiedersehen schenkt. Wie unglücklich wäre ich gewesen, wenn ich Ihre Gesinnungen gegen mich verändert gefunden hätte! Wie glücklich macht mich Ihre Versicherung, daß ich Ihnen kein Vergessener war!“

Juliette wandte den Kopf ab und beschleunigte ihre Schritte. Die Hand ließ den Mantel los und bewegte sich rasch nach dem Gesichte. Er glaubte zu bemerken, daß sie eine Thräne trocknete. „Wir haben inzwischen viel Trübes erlebt,“ antwortete sie ausweichend. „Sie wissen, welcher entsetzliche Kampf im Innern dem Frieden mit dem Feinde folgte, dem traurigsten Frieden, den Frankreich seit Jahrhunderten geschlossen hatte. Auch in unserm Hause … Sie kennen ja meinen Vater. Eine schwere Krankheit der überreizten Nerven brachte ihn an den Rand des Grabes, und als er dann langsam genas und sich wieder seiner Geschäfte annahm, konnte ihm der Verfall seines Vermögens nicht länger verborgen bleiben. Meine Mutter opferte freudig das ihrige, und es gelang, das Schlimmste abzuwenden; ja, seine Lage kann jetzt wieder für völlig gesichert gelten, aber seine beste Lebenskraft ist doch gebrochen, und wir dürfen uns kaum noch der Hoffnung hingeben, daß seine Gesundheit je wieder ganz hergestellt werden wird.“

„Und ist er uns Deutschen noch immer ein unversöhnlicher Feind?“ fragte Arnold etwas gedrückt.

Juliette nickte. „Er ist’s und wird seine Gesinnung schwerlich ändern.“

„Und Sie, mein Fräulein?“ Er blieb stehen, als wäre kein Schritt weiter zu thun vor Beantwortung dieser wichtigsten Frage, und sah erwartungsvoll in die großen Augen, die nach ihm umschauten und sich dann schnell senkten.

„Ich, mein Herr … O! mir sind diese Dinge gleichgültiger geworden, seitdem ich sie nicht mehr mit leidenschaftlicher Voreingenommenheit betrachte. Ich bin zu der Einsicht gelangt, daß es im Leben der Völker, wie der Einzelnen gewisse nothwendige Entwickelungen giebt, mit denen man sich abzufinden hat. Man kann den Begebenheiten nicht gerecht werden, wenn man mitten in ihnen steht und Partei zu ergreifen hat, aber wenn man die Geschichte studirt – ich studire eifrig Geschichte, und nicht nur die Frankreichs – so ergeben sich da weitere Gesichtspunkte auch für das Naheliegende. Sieg und Niederlage bedeuten dem Weltgeist ganz etwas anderes, als uns. Ich wünschte, es würde einmal eine Geschichte der Meinungen des Tages geschrieben, damit man recht deutlich einsehen lernte, wie kurzsichtig die Menschen allezeit gewesen.“

So ernst hatte sie noch nie gesprochen; in dieser Betrachtungsweise war ein deutscher Zug, der ihn frappirte.

„Sie sind ja eine Philosophin geworden,“ antwortete er mit freundlichem Lächeln. „Ich glaube, wir können uns verständigen.“

Eine leichte Röthe überhauchte ihr Gesicht. „Wir sind Protestanten,“ sagte sie, scheinbar ausweichend. „Mein Vater

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_280.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)