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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


gelebt und als er auf die Brücke kam, ließ er nicht weit von der Stelle halten, wo der Sage nach Johann von Nepomuk in die Moldau geworfen worden war, sah sich noch einmal nach dem Hradschin um und sagte mit Thränen in den Augen: „Ich werde dieses schöne Schloß nicht wieder sehen.“ In Budweis erkrankte sein Enkel gefährlich, so daß der ganze Hof vierzehn Tage in einem Wirthshause sich einquartieren mußte. Kaum in Görz angekommen, wurde der König selbst bettlägerig und starb an derselben Krankheit, vor welcher er geflohen.

Zwölf Jahre spazierten nun Domherren und Stiftsdamen ohne fürstliche Gesellschaft in der Gimpelallee umher, bis das Schicksal wieder einen Fürsten ohne Land nach Prag führte. Diesmal war es kein verjagter Monarch, der die Hradschiner Burg bezog, sondern ein Kaiser, der abgedankt hatte. Oder sollen wir sagen: den seine Umgebung gezwungen hatte, abzudanken? Wenigstens ist es Thatsache, daß Kaiser Ferdinand in der ersten Zeit seines Prager Aufenthaltes mit den Fingern auf die Fensterscheiben zu trommeln und dabei vor sich hinzumurmeln pflegte: „Ich hätte es doch nicht thun sollen.“

Die stille Allee hatte wieder ein erlauchtes Publicum. Die Kaiserin besonders wandte sich ihr mit Vorliebe zu. Der menschenfreundliche Kaiser zog es vor, Spazierfahrten nach der transmoldauischen Stadt zu unternehmen, irgendwo auszusteigen und in das lebendigste Gewühl des Straßenlebens unterzutauchen. Die menschenscheue Kaiserin aber fühlte sich nur im düstern Kaisergarten, der einen Bestandtheil der Burg bildet, und in jener melancholischen Allee wohl, in welcher jetzt auch oft breite Jesuitenhüte sichtbar wurden, welche die Häupter italienischer Beichtväter beschatteten. Die Gemahlin Kaiser Ferdinand’s ist eine Italienerin aus dem Hause Savoyen, und daß sie sich als Italienerin fühlt, bewies sie im Jahre 1848, als Radetzky einen Generalstabsofficier mit einer Siegesnachricht an das kaiserliche Hoflager nach Innsbruck sandte. Der Officier berichtete ihr in Specialaudienz, daß der Sieg den Oesterreichern theuer zu stehen gekommen sei. Die Kaiserin richtete sich, als sie von der Bravour hörte, welche die Bataillone ihres Vetters Carlo Alberto entwickelt hatten, stolz auf und sagte mit vor Bewegung zitternder Stimme: „Also haben sich meine Landsleute brav geschlagen?“

Der Italienerin gefiel es so wenig in der Prager Burg, daß sie dieselbe immer mit Wonne verließ, um sich, sobald der Frühling in’s Land kam, nach ihrem Landsitze im Venetianischen zu begeben. Und wenn sie im Spätherbst von ihrer Villeggiatur zurückkehrte, so geschah dies zögernd, als ob sie einer Gefangenschaft entgegen ginge. Fünf, sechs Mal stieg sie, wenn sie die Burg schon in Sicht hatte, aus dem Wagen und setzte sich viertelstundenlang mitten in der Nacht auf die erste beste Bank, welche ihr längs der Chaussee ein Ruheplätzchen bot. Dieses Zögern gab zu manchen spaßigen Zwischenfällen Veranlassung.

Der Polizeicommissär von Bubentsch, der letzten Bahnstation vor Prag, die der Burg viel näher liegt, als die Endstation, weshalb die Kaiserin daselbst den Waggon zu verlassen pflegte, meldete in seinem Bericht, daß die Kaiserin um zwei Uhr Nachts in Bubentsch angelangt sei. Der Commissär vom Hradschiner Bezirk berichtete, daß die Kaiserin nach vier Uhr in der Burg ausgestiegen sei. Die Fahrt vom Bahnhofe zur Burg nimmt aber nur eine Viertelstunde in Anspruch. – Der Polizeidirector wußte sich also lange nicht zu erklären, wie sich die einander scheinbar widersprechenden Rapporte zu einander verhielten, bis sich die Sache endlich aufklärte.

Heute fährt der Kaiser nicht mehr aus, denn er ist alt und gebrechlich geworden, und muß sich auf den Rollstuhl beschränken, in welchem er, um doch die Wohlthat einer Ortsveränderung zu genießen, stundenlang durch die lange Reihe seiner Gemächer hin und her geschoben wird. Dabei setzt er, der, als er noch in vollem Besitze seiner Geisteskräfte war, nie Jemandem etwas zu Leide gethan hatte, seiner Umgebung recht empfindlich zu.

Als er die letzte Ausfahrt in Begleitung eines seiner Leibärzte machte, holte er jeden Augenblick mit der Hand aus. Der Arzt bemächtigte sich aber immer im rechten Augenblicke der letzteren, um ihm scheinbar den Puls zu fühlen. So kam man auf die Brücke zur Johannesstatue. Wieder erhebt der Kaiser die Hand; wieder greift der Arzt nach dem Pulse. „Was haben’s denn mit dem ewigen Pulsgreifen? – So lassen’s mich doch den heiligen Johannes grüßen!“ sagt der Kaiser unwirsch. Der Arzt giebt die Hand frei – patsch! hatte er eine Ohrfeige.

Trotz seiner Gebrechlichkeit hat der zweiundachtzigjährige Mann noch eine große Lust am Leben. In seinen jungen Tagen hatte ihm eine Zigeunerin geweissagt, daß er achtzig Jahre alt werden würde. Nun ist er glücklich darüber, daß er es schon weit über die ihm in Aussicht gestellten achtzig gebracht habe, und es entspinnt sich fast täglich folgendes stereotype Gespräch zwischen ihm und seiner Umgebung:

„Wie alt kann ich also werden?“ fragt der Kaiser.

„Majestät können neunzig, können hundert Jahre alt werden.“

„Hundert Jahre? Und was dann?“

„Es können auch hundertzwanzig werden.“

„Hundertzwanzig, gut, und was dann?“

„Nun, dann werden Majestät sterben.“

„Sterben? Und was dann?“

„Dann werden Sie auf das Glänzendste bestattet werden – man wird machen: bum, bum!“

„Bum, bum!“ wiederholt der Kaiser, nachdenklich vor sich hinsehend.

Während sich der Nestor aller europäischen und auch wohl aller außereuropäischen Monarchen auf diese naive Art mit seinen Cavalieren unterhält – vom Pianospiel, das er einst mit Leidenschaft betrieben, ist jetzt eben so wenig mehr die Rede, wie vom Billardspiel, dem er, als er noch frisch war, auch sehr zugethan gewesen – sucht seine um zehn Jahre jüngere Gemahlin immer noch mit Vorliebe die stille Allee auf. Die Gedanken, welche sie beschäftigen, sind nur auf einen Punkt gerichtet – sie hat den brennenden Wunsch, ihre verstorbene Schwester, welche an den König von Neapel verheirathet gewesen, selig gesprochen zu sehen. Der Seligsprechungsproceß wickelt sich ihr viel zu langsam ab, obgleich von Seite ihrer geistlichen Umgebung Alles gethan wird, ihn zu fördern. Aber Rom läßt sich Zeit; es darf sich mit der Prüfung der Wunder, welche die Seligzusprechende verübt haben muß, nicht übereilen. Und dann ist man auch dem Hause Savoyen nicht besonders grün im Vatican und auch das Haus, in welches die savoyische Princessin, der an der Seligsprechung ihrer Schwester gelegen ist, hineingeheirathet hat, ist in Rom nicht mehr so gut angeschrieben, wie ehedem. Der Unfehlbare mag vielleicht denken: die Savoyerin kann warten.

Und noch andere fürstliche Persönlichkeiten bevölkerten in den letzten Jahren die stille Allee in Prag. Der vertriebene Großherzog von Toscana wurde, als er noch sein Hradschiner Palais bewohnte, ab und zu in derselben gesehen, und auch der Exkurfürst von Hessen ließ sich nicht selten von seinen Isabellen auf den Hradschin hinaufziehen, um da oben zwischen den alten Räumen die Fürstenpromenade entlang zu wandeln, wie man diese Allee mit Fug nennen kann. Er wohnte auf der Kleinseite, dem Palais des Friedländers gerade gegenüber, und hatte daher nicht weit nach dem Hradschin. Sie war interessant genug, die Nachbarschaft des kurfürstlichen Hauses, das in früheren Jahren dem Fürsten Windischgrätz gehört hatte. Gegenüber das alte Wallenstein-Haus, in welchem noch der Schimmel, den der Friedländer geritten, ausgestopft zu sehen ist. Zur Linken das Palais Auersperg, gegenwärtig dem Fürsten Carlos Auersperg, dem ersten Cavalier des Reiches, wie ihn Schmerling zu nennen pflegte, gehörig. Carlos Auersperg war einmal österreichischer Ministerpräsident und ist gegenwärtig Landmarschall von Böhmen, während sein Bruder Adolph Präsident des cisleithanischen Ministeriums ist. Die beiden Fürsten sind ganz verschiedene Charaktere und sehen einander auch gar nicht ähnlich. Carlos sieht wie ein echter Cavalier, Adolph aber wie ein behäbiger Hôtelwirth aus. Carlos ist schon mit fünfunddreißig Jahren ergraut und zwar über Nacht. Im Jahre 1848 erhoben sich die böhmischen Bauern auf seiner Stammherrschaft gegen ihn, und er mußte sich in einem Heuwagen verstecken. Er brachte eine schreckliche Nacht in dem Wagen unter dem Heue zu, und die Bauern stachen wiederholt mit ihren Mistgabeln, die sie in das Heu einbohrten, nach ihm. Als der Morgen Rettung brachte, war das braune Haar des Fürsten schneeweiß geworden.

Zur Linken des kurfürstlichen Palais erhebt sich der Fürstenberg’sche Palast, von einem terrassenförmig bis zur Hradschiner

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 317. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_317.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)