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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


der sich von Mund zu Mund herumtragen ließ und vielleicht auch an die gewünschte Stelle dringen konnte. Schade nur, daß auch so alle Liebesmüh’ vergeblich blieb.

Eines Tages hatten sie mit gutem Winde die Länge des Sees durchschnitten. Als sie gegenüber Montreux umkehrten, zeigte sich die Nothwendigkeit, in der Nähe des nördlichen Ufers in kurzen Linien zu laviren. Einer dieser Zackenschläge brachte sie bei Vevey bis dicht vor die erste Ladebrücke und nahe an’s Land heran. Als nun die Segel umgestellt wurden und das Boot seine Drehung machte, sprang Kruttke plötzlich wie besessen von der Mastbank auf, schrie: „Halt, halt!“ und deutete mit der Hand auf eine Steinmauer, die eine mit Platanen besetzte Terrasse abschloß.

„Was giebt’s denn?“ fragte Arnold am Steuer, mit den Augen der angedeuteten Richtung folgend.

„Sehen Sie nichts, Herr Rose?“ rief Kruttke, „dort links in der Rosenlaube – die Dame im schwarzen Kleide – Herrgottchen! die mit dem Opernglase vor den Augen – sie sieht ja hierher.“

„Das wäre –?“

„Na, gewiß! Ich kenne doch meine Madame Blanchard – über den ganzen See hin will ich sie erkennen. Wenn sie nur erst da ist! Und nun hat sie auch uns bemerkt und macht eiligst Kehrt – und sehen Sie nur da hinten am Hause hinauf auf dem mittelsten Balcon, wer steht da –? Aber um Himmelswillen, fallen Sie mir nicht in’s Wasser, Herr Rose! Wo wollen Sie denn hin?“

Es hatte wirklich den Anschein, als ob Arnold über Bord springen wollte, um rascher an’s Land zu kommen. Er hatte die Steuerpinne losgelassen, den Fuß auf den Rand des Kutters gesetzt und den Oberkörper so weit vorgebeugt, daß er bei der geringsten Schwankung das Gleichgewicht verlieren mußte. „Anlegen, anlegen!“ rief er, „sofort anlegen!“ Der Matrose zog die Segel ein und ergriff ein Ruder. Mit einigen kräftigen Stößen brachte er das Boot an’s Land.

Arnold eilte der Terrasse zu. Seitwärts führte eine schmale Steintreppe auf dieselbe. An einem hübschen Springbrunnen vorüber gelangte er zu einer gedeckten Halle vor dem stattlichen Hause. Die Dame im schwarzen Kleide mußte schon vor ihm eingetreten sein; jedenfalls befand sie sich nicht unter den Fremden, die in der Halle an kleinen Tischen saßen und plauderten oder spielten.

In der weitgeöffneten Thür standen mehrere Kellner; sie sahen mit einiger Verwunderung den jungen Mann durch den Garten und die drei oder vier Stufen hinaufstürmen, als gelte es eine Verfolgung. „Madame Blanchard aus Paris?“ fragte er hastig und seinen Schritt kaum ein wenig mäßigend.

„Geht soeben die Treppe hinauf. Die Zimmer der Damen liegen –“

„Ich weiß, ich weiß.“ Er lief mehr als er ging, von Zeit zu Zeit eine Stufe überspringen. Als er den letzten Absatz erreicht hatte, war die Dame nur eben im Corridor angelangt.

Sobald sie merkte, daß sie in die Thür ihres Zimmers nicht mehr werde eintreten können, bevor er sie erreicht haben würde, blieb sie stehen und erwartete ihn. „Mein Herr, Sie sind es – Sie sind es also wirklich –“ stammelte sie. „Wie Sie mich erschreckt haben! Meine Nerven …“

Er ergriff ihre Hand und drückte sie an seine Lippen. „Entschuldigen Sie, Madame!“ bat er, „entschuldigen Sie meine Hast! Wenn man aber wochenlang keinen anderen Gedanken gehabt hat, als wie man in der weiten Welt ein paar Menschen aufsuchen soll, die nicht das Mindeste dazu scheinen thun zu wollen, sich finden zu lassen, und endlich –“

„O! Juliette war zum Sterben krank, mein Herr,“ unterbrach ihn die Dame. „Das arme Kind glaubte wirklich, sterben zu müssen.“

„Mein Himmel! Aber die Gefahr ist doch beseitigt?“

„Die Aerzte sagen, sie leide am Herzen; ihre Kunst scheint sehr unzureichend gegen Uebel dieser Art. Sie machte ihr Testament und vertheilte kleine Andenken an ihre Freunde – seitdem war sie ruhiger, und die bösen Zufälle kehrten nicht wieder.“

„Damals war es auch, als sie mir das kleine Bild zuschickte, das ich vor Jahren einmal –“

„Ganz recht, mein Herr. Sie glaubte, daß es Ihnen lieb gewesen sei, und da sie auf den Tod gefaßt war …“

„Aber warum wurde es an einem anderen Orte zur Post gegeben?“

„Es war das ihre eigene Anordnung. Vielleicht fürchtete sie –“

„Was – was?“

„Was nun doch eingetroffen ist. Sie sind hier, Herr Rose.“

„Sprechen Sie ehrlich! Fürchtete sie, daß ich kommen könnte?“

Madame Blanchard lächelte vor sich hin. „Das muß ich wohl glauben.“

„Und darf ich sie sehen?“

„O, nicht so unvorbereitet, mein Herr; der Schreck könnte –“

„Sie weiß aber schon, daß ich hier bin. Als mein Boot landete – die Gestalt auf dem Balcon – ich habe mich nicht getäuscht …“

„Dann freilich –! Gedulden Sie sich nur eine kurze Minute.“ Sie öffnete leise die Thür und schaute hinein. Gleich darauf stieß sie einen Schrei aus und eilte in’s Zimmer. Die Thür blieb offen Arnold folgte.

Juliette lag auf der Erde neben einem Lehnstuhle, auf den sie den Kopf gestützt hatte. Ihr schönes Gesicht war marmorbleich. Die dunkeln Locken waren darüber hingefallen. Die Mutter strich sie ihr aus der Stirn, kniete neben der Ohnmächtigen nieder, nahm sie in den Arm und rief: „Du darfst nicht sterben, mein theures Kind. Du darfst nicht sterben. Er kommt ja – er ist bei Dir.“

Arnold faßte ihre Hand und beugte sich zu ihr nieder. „Juliette – meine theuerste Juliette!“ flüsterte er ihr zu. „Nein! Du darfst nicht sterben. Du wirst leben – für mich leben. Sage mir nur, daß Du mich liebst, und Dein Herz wird nicht mehr krank sein. Du liebst mich, nicht wahr, Du liebst mich?“

Er fühlte einen sanften Druck ihrer kleinen Hand, die sich schnell in der seinigen erwärmte. Das Gesicht, noch eben so starr, wurde mehr und mehr von einem wonnigen Lächeln belebt. „Du liebst mich, Juliette, nicht wahr, Du liebst mich?“ wiederholte er wieder und wieder. Und nun schlug sie die Augen auf, diese wunderbaren dunkelblauen Augen, und der eine Blick sagte ihm Alles. Dann, wie erschreckt über diesen Verrath des so lange gehüteten Geheimnisses, entzog sie ihm die Hand, schlang die Arme um den Nacken der Mutter, drückte das Gesicht an ihre Schulter und schluchzte: „Mutter! Mutter! Du hörst, er liebt mich noch.“

Madame Blanchard streichelte zärtlich ihre Locken und sah dabei mütterlich besorgt zu Arnold hinüber, halb um Schonung bittend, halb erkundend, ob es sein Ernst sei. „Er liebt Dich noch,“ sagte sie beruhigend, „und Du – Du – Du darfst ihm gestehen –“

„Ach! er kannte ja mein schwaches Herz,“ rief das Mädchen, sich noch fester an sie schließend, „lange – lange schon.“

Arnold umfaßte die schlanke Gestalt und hob sie auf den Stuhl. Der Kopf sank matt gegen die Lehne zurück, aber die Augen schlossen sich nicht mehr. Er kniete vor ihr nieder, sah zu ihr auf und küßte ihre Hände. „Warum wolltest Du sterben?“ fragte er mit zärtlichem Vorwurfe.

Sie zog ihn sanft zu sich hinauf und küßte seine Stirn. „Weil ich nicht leben konnte ohne Dich,“ hauchte sie ihm zu. „Und wenn Du nicht gekommen wärst – gewiß, gewiß! ich wäre bald gestorben.“

„Und konntest Dich doch verstecken,“ rief er, „und dem Zufalle überlassen, ob er mich zu Dir führe?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nicht dem Zufalle! Du hattest ja mein Bild wieder.“

Er sah sie überrascht an, als ob er nicht gleich den Zusammenhang ihrer Worte faßte. „Auch Du glaubst an seinen geheimen Zauber?“ sagte er lächelnd.

„Jetzt dürfte ich wohl,“ antwortete sie, „denn es hat sich ja wunderbar genug bewährt. Aber nennen wir’s nicht so! Ich habe viel darüber nachgedacht, und zu erklären ist’s freilich kaum. Daß aus Millionen zwei Menschen einander finden, ist das nicht immer eine Fügung? Man nimmt’s auch fast ohne Verwundern gläubig und dankbar dafür und fragt nicht einmal: wie hat das so geschehen können und müssen? Mitunter aber hebt sich der Schleier ein wenig; wir sehen zurück bis auf das erste noch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_327.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)