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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


unbewußt Gemeinsame, das gleichsam wie ein Samenkorn in der Erde liegt und auf Sonnenschein und Regen wartet. Und wenn man das nun kennt und wenn man weiß, daß es auch immer weiter wirksam und bestimmend gewesen ist, soll man ihm da nicht vertrauensvoll eine Kraft zuschreiben, die unsern Willen zwingt und unseren Wegen die Richtung giebt?“

„O Du Philosophin!“ rief Arnold. „Dir war’s sicher schon in der Wiege bestimmt, daß Du einen Deutschen lieben solltest. So schön hätte ich selbst mir’s gar nicht zurechtlegen können. Wie aber kamst Du zu dem Bilde, das man doch aus meiner Brieftasche entwendet hatte?“

Madame Blanchard gab ihr ein Zeichen, sich nicht durch Sprechen zu sehr anzustrengen. „Credillon hatte es in der Brieftasche entdeckt,“ nahm sie selbst das Wort, „und Ihnen dann verleugnet, als Sie es zurückforderten. Er wußte nicht, daß Sie uns bereits Ihre Schuld gebeichtet hatten, daß Juliette Sie als den Entführer ihres Bildes kannte. Nach einiger Zeit, als sie seiner Bewerbung immer heftiger widersprach, erfand er – wahrscheinlich um sich bei ihr einzuschmeicheln – das Märchen, er habe in deutschen Blättern des Bildes wegen einen Aufruf erlassen und Demjenigen eine große Summe geboten, der es ihm, als dem Maire, einsende. Juliette, die Ihrer Versicherung durchaus Glauben geschenkt, auch von der Beschlagnahme Ihrer Papiere gehört hatte, durchschaute nun sofort den Zusammenhang, schwieg aber klug, um ihn in die Falle gehen zu lassen. Schon nach wenigen Wochen brachte er denn wirklich die Nachricht, der geldgierige Deutsche habe sich durch eine Mittelsperson gemeldet und ihm das Bild verkauft. Er lege es nun zu Juliette’s Füßen, hoffe aber auf einen Dank. Juliette forderte ihn spöttisch auf, dem Papa seine Unkostenrechnung vorzulegen. O! an eine so materielle Ausgleichung der Verbindlichkeiten habe er nie gedacht, antwortete er; wenn aber seine Aufmerksamkeit einen Lohn verdiene, der wirklich lohne – denken Sie, der Unverschämte begehrte einen Kuß! Juliette, empört ebenso über seine Verlogenheit wie über diese Zumuthung, nahm das Bild und – versetzte ihm einen Backenstreich. Die Worte, mit denen sie ihn begleitete, wiederhole ich nicht; sie machten selbst auf meinen guten Charles einen so tiefen Eindruck, daß der Bösewicht bei ihm allen Glauben einbüßte und sich bald zum Rückzuge genöthigt sah. Wir haben dann von seinen Chicanen viel zu leiden gehabt. Entblödete er sich doch nicht, uns nachträglich des Einverständnisses mit dem Feinde während der Belagerung zu bezichtigen. Das verstörte meinen armen Blanchard nun vollständig. Aber solche Leute machen jetzt in Frankreich ihr Glück: er ist bereits Unter-Präfect und wird noch weiter steigen.“

Das Gespräch war, früher als Arnold es wünschen konnte, auf Blanchard gebracht; er selbst mußte es nun dabei festhalten. Er erzählte, daß er den Tod des ihm einst so lieb gewordenen Mannes schon in Paris erfahren und daß er seine Ruhestätte besucht habe. Juliette weinte still in ihr Tuch, und Madame Blanchard erleichterte sich durch eine Fülle von Mittheilungen aus seiner Leidenszeit. „Er hatte zuletzt Alles vergessen,“ schloß sie, „was seit dem unglücklichen Tage geschehen war, an dem sich Paris ergab. Ja, er glaubte an diese Uebergabe nicht einmal, sondern behauptete, die Belagerung werde noch immer fortgesetzt. Er hörte auch fortwährend schießen. Seine letzten lallenden Worte waren: ‚Paris fällt nicht.‘“ –

Der See lag schon in tiefer Dämmerung; nur die höchsten Bergspitzen links über dem Rhonethal glühten noch wie Feuer der scheidenden Sonne. Madame Blanchard öffnete die Thüren und Arnold trug Juliette im Sessel auf den Balcon hinaus. Ihre Einrede, daß sie sich gar nicht mehr so schwach fühle und wohl auch die wenigen Schritte gehen könne, wollte er nicht gelten lassen. Unten an der Ladebrücke lag noch der Kutter. Der Matrose war an’s Land getreten, aber Kruttke saß auf der vorderen Mastbank und schaute unverwandt zum Balcon hinauf. Arnold machte die Damen auf den treuen Menschen aufmerksam. „Er hat gar keinen geringen Theil dabei,“ sagte er scherzend zur Mama, „daß wir gute Freunde geworden sind. Er glaubte allen Ernstes, Sie müßten hungern, und seinem mitleidigen Herzen verdankten Sie den ersten Teller Suppe aus unserer Küche.“

„War auch die rothe Flagge seine Erfindung?“ fragte Juliette.

„Nein, sie war mein verzweifelter Gedanke,“ versicherte Arnold, „aber Ehre, wem Ehre gebührt: die Seefahrten hat er in Anregung gebracht.“

Es ermittelte sich nun, daß der Kutter erst heute von den Damen bemerkt war. Sie hatten seit Wochen das Zimmer gehütet: Juliette war erst seit wenigen Tagen im Stande gewesen, das Bett zu verlassen. Nun war ihnen der Schnellsegler mit der rothen Flagge aufgefallen. Da sie aus so weiter Entfernung die Inschrift nicht lesen konnten, hatte die Mama ein Fernglas angewandt. „Der Name ‚Juliette‘,“ erzählte sie weiter, „beunruhigte mein Töchterchen sogleich ganz außerordentlich. Als sich nun das Boot näherte, ging ich auf die Terrasse hinab, um aus geringerer Entfernung die Leute darauf zu beobachten. Hätte sie wenigstens Geduld gehabt, bis ich ihr Gewißheit bringen konnte! Aber sie, die ohne meine Stütze nicht zwei Schritte gehen konnte, war auf den Balcon hinausgetreten und – nun, Sie kennen ja die Folgen dieser Unvorsichtigkeit.“

Arnold drückte dem geliebten Mädchen die Hand. „Mir ist nach dieser Ohnmacht so wohl und leicht um’s Herz, wie seit Jahren nicht,“ versicherte Juliette.

Der Mond tauchte aus den Bergnebeln auf, eine große bleiche Scheibe, und hob sich langsam in das Tiefblau des unbewölkten Himmels hinauf. Und nun blitzten Lichtfunken auf dem Seespiegel und tanzten weiter und weiter über die sanften Wellenbiegungen hin, bis zuletzt ein glänzender Lichtstreif bis zum jenseitigen Ufer hinüberspielte. „Ich denke an eine Mondnacht,“ sagte Arnold träumerisch, „die für mein ganzes Leben bedeutsam war.“ Er erzählte von seiner Nachtwache in Feindes Land und von dem ersten Besuch der Blanchard’schen Villa.

„Ihr Deutsche seid doch ein wunderliches Volk,“ bemerkte Juliette ganz so schalkhaft, wie in den früheren glücklichsten Tagen ihres Verkehrs. „Es ist nur gut, daß zu unserer Verlobung Mondschein im Kalender steht. Wenn man hier am Genfer See nicht für den alten Burschen schwärmen lernt, denke ich, lernt man’s überhaupt nicht.“ –

Spät erst trennten sie sich. Arnold nahm im Hôtel sogleich für sich Logis. Am andern Tage wurde Kruttke mit dem Kutter nach Ouchy zurückgeschickt, um aus Lausanne die Sachen abzuholen und auf der Post Weisungen zu geben. Er nahm zugleich einen Brief mit, der den Lieben in der Heimath ein vollfreudiges „Gefunden!“ zurief.

Aber Kruttke brachte auch einen Brief mit, der im „Hôtel du Lac“ zu Vevey vielleicht mehr Sensation erregte, als der Arnold’s im Hause der Commerzienräthin erwarten durfte. Um es nur gleich mit den knappsten Worten zu sagen: Victor Blanchard hatte tief aus Rußland an Clärchen geschrieben und bei ihr angefragt, ob sie den Muth habe, seine Hausfrau zu werden. Muth gehöre freilich dazu, denn er hause ganz außer der civilisirten Welt; nicht jener augenblickliche Muth, der leicht zu einem großen Opfer anrege, sondern jener beharrliche, der in treuer Pflichterfüllung nicht ermüde und den nur die deutschen Frauen hätten. Clärchen hatte den ganzen Brief abgeschrieben. „Was soll ich thun?“ schloß sie. „Ob Du nun Deine Juliette findest oder nicht, mich willst Du ja doch nicht. Und daß ich Dir’s nur gestehe: ich war ihm schon in den Tagen seiner Gefangenschaft gut.“

Madame Blanchard war wie aus den Wolken gefallen, und es dauerte einige Zeit, bis sie sich auf dem Boden dieser neuen Thatsachen zurechtfand. „Ich will glauben,“ sagte sie endlich, „daß er die beste Wahl getroffen hat, und mein Mutterherz giebt auch dazu seinen Segen; aber Tochter und Sohn …“ sie wiegte nachdenklich den Kopf und tupfte eine Thräne fort; „gut, daß mein Charles schläft.“

Als Arnold Abends seine Juliette auf der Terrasse unter den mondbeglänzten Platanen langsam am Arm auf und ab führte und die Erinnerung des Erlebten in ihnen beim traulichen Austausch aller so lange und sorgenvoll bewahrten Herzensgeheimnisse mächtig geworden war, sagte er, ihre Hand auf sein Herz drückend: „Es war ein schwerer Kampf, und die Liebe hat gesiegt. Erst in Wenigen freilich! Aber laß uns hoffen, daß ‚Versöhnung‘ bald das allgemeine Losungswort werden wird. Mensch zu Mensch und Volk zu Volk!“



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 328. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_328.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)