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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Unterschied in den Persönlichkeiten und Individuen, die Thätigkeit des Eigenwillens, die Gliederung der Gesellschaft, die Mannigfaltigkeit der Berufszweige und Gewerbe, die Theilung der Arbeit nach Anlage und Geschicklichkeit, die Schichtung der bürgerlichen Classen, die Doppelströmung von Oben und Unten, von Hoch und Niedrig, das Verlangen, daß an die Stelle des allein gebietenden Oberbefehls, der im Kriege nothwendig ist, die Mitbeschließung des Gesetzes zu friedlichen Zeiten als bürgerliches Recht der freien Genossenschaft anerkannt werde.

Wird diese Forderung nach hartem Ringen durchgesetzt, tritt an die Stelle des persönlichen Herrscherwillens der Mächtigen die Selbstgesetzgebung des Volkes, so beschreitet dieses in seiner Entwickelung eine zweite Stufe, diejenige der politischen Freiheit. In dem Worte Selbstgesetzgebung liegt aber wiederum eine weitere That der Selbstbeschränkung, zu der nur diejenigen Völker befähigt sind, welche die Kraft und den Willen haben, das sich selbst auferlegte Gesetz zu halten. Diese Entwickelung zur politischen Freiheit ist am klarsten im classischen Alterthume ausgeprägt, und zwar nach den beiden Richtungen der Entstehung und des Verfalls. Wie die einfachen, geraden und schönen Linien eines griechischen Tempelbaues treten uns die Bedingungen der politischen Freiheit bei Griechen und Römern anschaulich entgegen; eine Thatsache, die zu der Forderung führt, daß die in den modernen Culturvölkern leitenden Personen nothwendig mit dem Geiste des classischen Alterthums und seinen politischen Ueberlieferungen durch das Studium der alten Sprachen bekannt geworden sein müssen. Aus der Geschichte der Griechen und Römer ist die in ihrem Werthe unvergängliche Lehre zu begründen, daß die jeweilig mächtigsten Culturvölker auch die freiesten gewesen sind, daß aber die politische Freiheit zu Grunde geht, wenn jene Grundlage des zur Selbstbeschränkung und zum freiwilligen Gehorsam entschlossenen Rechtssinnes so weit schwindet, daß das gesetzgebende Volk sein eigenes Werk durch Willkür und Zügellosigkeit zerstört. Die politische Freiheit der Griechen und Römer ging außerdem zu Grunde, weil es diesen Völkern nicht beschieden war, zwei weitere Stufen der menschlichen Freiheit zu ersteigen, ohne deren Erreichung die politische Freiheit stets gefährdet bleibt.

Eine dritte Stufe der menschheitlichen Freiheit ist die wirthschaftliche Freiheit der Arbeit. Die vollkommensten Gemeinwesen der alten Geschichte beruhten auf Sclaverei, in welche zumal die Kriegsgefangenen versetzt wurden. Zwar bezeichnet die Sclaverei insoweit einen culturgeschichtlichen Fortschritt, als die allerrohesten Völker den überwundenen Feind einfach vernichten und dessen Schonung zum Zwecke der wirthschaftlichen Benutzung bereits ein höheres Verständniß und eine Mäßigung jener Leidenschaften verräth, von denen der Menschenfresser oder der blutgierige Barbar knechtisch beherrscht wird. Im weitern Verlaufe der Geschichte erweist sich aber die Sclaverei überall als ein schwerer Fluch, als Hemmniß höherer Gesittung. Sclaverei bedeutet nicht nur grausame Unterdrückung des Dienenden, sondern vielmehr Verderbniß der Herrschenden. Jede schrankenlose Gewalt über andere Menschen vernichtet das Pflichtgefühl der Herrschenden gegen das Gesetz und bringt dieses unter die Uebermacht des menschlichen Eigennutzes.

Aus der Christenheit ist die Sclaverei mit Ausnahme weniger Colonialstaaten verschwunden, obgleich das Christenthum unmittelbar kein Verdammungsurtheil darüber aussprach und trotz aller Rechtgläubigkeit nach der Entdeckung Amerikas christliche Staatsmänner die Negersclaverei wieder einführten, oder sogar heute den Gräueln des Kulihandels noch gleichgültiger zuschauen, als dies heidnischen Philosophen möglich gewesen wäre. In Europa vollzog sich seit dem Mittelalter schrittweise der Uebergang von der Sclaverei zur Hörigkeit, zur Leibeigenschaft, zur Gutsunterthänigkeit, zur Dienstbarkeit der ländlichen Arbeiter bis hin zur Befreiung der wirthschaftlichen Kräfte durch die neuesten Gesetzgebungen, wobei der Zusammenhang zwischen wirthschaftlicher und politischer Freiheit vorzugsweise in der englischen Geschichte deutlich ausgeprägt erscheint. Daß jene Befreiung langsam und allmählich vor sich ging, verbürgt ihre Gründlichkeit und Sicherheit. Und umgekehrt erklären sich die unverkennbaren Krankheitszustände mancher amerikanischer Staaten aus dem schroffen Sprunge von der Emancipation des Negers zur politischen Gleichberechtigung.

Wenn ein Volk wirthschaftliche Freiheit ohne Nachtheil ertragen soll, so muß es zuvor wiederum Selbstbeschränkung gelernt haben. Die dienende Classe muß gewillt und befähigt sein, an Stelle der ihr abgenommenen Zwangsarbeit durch freie Arbeit höhere Leistungen zu vollbringen und größere Werthe zu erzeugen. Nicht weniger, willkürlicher, unregelmäßiger, sondern fleißiger, sparsamer und treuer muß der freie Mann zu arbeiten gewillt sein, im Vergleich zum Sclaven oder Leibeigenen. Und andererseits muß auch in wirthschaftlich freien Ländern die begüterte Classe ihrer sinnlichen Genußsucht Zügel anlegen können. Wie jener englische Prinz in seinem Wappenschild das bekannte Wort hineinschrieb: „Ich diene“, so steht gleichsam an der Eingangspforte des kaiserlichen Palastes in Berlin geschrieben „Ich arbeite“.

Messen wir die Höhe unserer Entwickelung an dieser Forderung der allgemeinen Arbeitspflicht, so müssen wir bekennen, daß wir in Deutschland allen Grund haben, bescheiden zu sein und in uns zu gehen. Die Gesetzgebung des norddeutschen Bundes, welche uns mit Freizügigkeit und Gewerbefreiheit beschenkte, fand uns nicht in derjenigen Reife, welche die Besten unseres Volkes vorausgesetzt hatten. Das Kennzeichen wirthschaftlich freier Völker, welches darin besteht, daß die Arbeit als Ehrenschmuck des Mannes gilt, war vielfach bei denen abhanden gekommen, welche die höchste Tugend darin setzten, in möglichst kurzer Zeit für möglichst hohen Lohn möglichst schlechte Arbeit zu verrichten oder auch ohne Anstrengung im Börsenspiel reich zu werden.

Die vierte und höchste Stufe der menschheitlichen Freiheit ist religiöse Freiheit. Alle Völker der vorchristlichen Zeit waren wenigstens soweit, als die Volksmassen in Betracht kamen, in sittlicher Knechtschaft befangen. Sclaverei des inneren Menschen auf sittlichem Gebiete ist dann vorhanden, wenn dieser unter dem Bann des Aberglaubens oder aus Furcht vor dem Zorn der Gottheit den überlieferten Geboten der Priesterherrschaft blindlings gehorcht. Abergläubische Furcht beherrschte das Thun und Treiben der Griechen und Römer. Die Religion Mose war eine Religion der Furcht vor dem göttlichen Zorn, ein Glaube an Opfer und Ceremonien.

Angesichts eines in abergläubischen Vorstellungen befangenen Volkes liegt es nahe zu meinen, daß der ängstliche Furchtglaube durch naturwissenschaftliche Aufklärung oder verstandesmäßige Moralphilosophie vernichtet werden könnte. Wie aber Gottesleugnung nicht zur sittlichen Freiheit des Menschen führt, zeigt wiederum der Ausgang der griechischen Philosophenschulen in ewig mustergültiger Weise. Die Philosophie war im Alterthum eine größere, weiterreichende Macht, als bei uns. Trotz ihrer unsterblichen Verdienste vermochte sie nicht, den Zusammensturz und den sittlichen Verfall der alten Welt aufzuhalten.

Erst mit dem Christenthum trat das Princip der religiösen Freiheit in die Welt und zwar wiederum mit der Bedeutung der höchsten Selbstbeschränkung. An Stelle der Furcht vor ewigen Strafen tritt nun als tiefster Beweggrund des sittlichen Handelns jene Gottes- und Nächsten-Liebe, die unabhängig von Ceremonialvorschriften, Opfern und Kasteiungen, frei vom Buchstaben des Gesetzes und dem Machtgebot des Priesters, sich selbst schlechthin nach dem Vorbilde Christi an den Willen Gottes in freiwilliger Unterwerfung bindet. Zwar fordert auch das Christenthum Gottesfurcht, aber diese ist nichts anderes, als ehrfurchtsvolle Scheu des kindlichen Emporblickens. In der höchsten Liebe zu Gott wird immer die letzte Spur der Furcht getilgt sein.

Solche Völker, deren sittliches Leben in Familie und Staat von Priestern wesentlich mit den Motiven der Furcht vor ewiger Strafe beherrscht werden kann, haben auf den Namen der Freiheit keinen Anspruch; sie befinden sich, mögen sie heißen, wie sie wollen, im Zustande sittlicher Sclaverei oder auf der Stufe kindlicher Unreife; aber freilich stehen sie immer noch höher, als die Classe derjenigen, welche den Beruf zur sittlichen Freiheit selbst leugnen und in ihrem angeblichen Aufklärungswahne sittliches Handeln als Thorheit bezeichnen und auch den Geist von dem Naturgesetze der Materie beherrscht sein lassen. Trotz aller sogenannter Christlichkeit stand auch das Mittelalter in sittlicher Hinsicht

niedriger als die besten Zeiten des heidnischen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 333. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_333.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)